40 Jahre nach Herford – den demokratischen Sozialismus gibt es nur mit linken Mehrheiten

Das Ergebnis der Bundestagswahl ist nicht weniger als eine Katastrophe – für die Demokratie im Allgemeinen und die Sozialdemokratie im Besonderen. Sowohl das zweistellige Ergebnis der Rechtsradikalen als auch das schlechteste Ergebnis der SPD seit Bestehen der Bundesrepublik sind ein Einschnitt in die bundesrepublikanischen Demokratie und eine historische Herausforderung für uns. Im Nachgang zur Bundestagswahl bleibt festzuhalten:
»» Den Neunmalklugen, die in sozialer Gerechtigkeit das falsche Thema des Wahlkampfes erkannt haben wollen und stattdessen vorschlagen, mehr „Wirtschaftsnähe“ zu suggerieren, ist entschieden zu widersprechen. Der Aufstieg einer rechtsradikalen Partei lässt sich nicht erklären ohne die Erkenntnis, dass der real existierende Neoliberalismus die Aufstiegshoffnungen, die elementarer Bestandteil sozialer Marktwirtschaft waren, in Abstiegsängste verwandelt hat. Gute Arbeit, Verteilungsgerechtigkeit und vor allem soziale Sicherheit – konkret zum Beispiel das Thema sachgrundlose Befristungen – bleiben deshalb die elementaren Aufgaben der Sozialdemokratie – nicht nur aus Selbsterhaltung, sondern auch als Verteidigung der Demokratie.                                                               »» Die Bekämpfung des Rechtsrucks der Gesellschaft ist auch ein Kampf für neue linke Mehrheiten. Dafür gilt es, Haltung zu zeigen. Wer Menschen wieder zurück für die Demokratie gewinnen will, darf sich dafür nicht in die Arenen der Rechten begeben. Wir werden rassistische Einstellungen niemals als akzeptable Positionen eines demokratischen Diskurses akzeptieren. Gleichzeitig müssen wir die Menschen, die das Vertrauen an die Demokratie verloren haben,
zurückgewinnen. Dafür müssen wir zum einen auf mehr politische Bildung setzen. Weil Demokratie lernen am besten mit Demokratie leben funktioniert, müssen wir bei jungen Menschen anfangen, sie stärker an Entscheidungen zu beteiligen. Wir als Jusos müssen diese Anforderungen mit in die Kommunen nehmen. Weiterhin müssen wir die demokratische Polarisierung stärken. Es ist gut, dass die SPD in Nordrhein-Westfalen und im Bund den Gang in die Große Koalition ausgeschlossen hat. Wir müssen jetzt daran arbeiten, dass die Unterschiede zwischen den großen Parteien mehr als nur in Umsetzungs-Fragen zu erkennen sind. Wir brauchen grundlegende eigene, ideologisch untermauerte Narrative, mit denen wir uns von den Konservativen in den wesentlichen Fragen klar abgrenzen. Und wir müssen gesellschaftliche Stimmungen schaffen, in denen wieder mehr Menschen von Aufstiegshoffnungen angetrieben werden. Dafür brauchen wir wirtschaftliche Dynamiken, die der real existierende Neoliberalismus nicht zu schaffen in der Lage ist.
»» Weniger als 30 Prozent der Deutschen bezeichnet sich laut FES-Mitte-Studie von 2016 selbst als „links“ oder „eher links“. Ein Umschwung auf scharfe linke Rhetorik wird also allein nicht aus der Krise der Sozialdemokratie führen. Gleichzeitig ist klar, dass die SPD erst dann wieder eine Regierung anführen wird, wenn es ein linkes Projekt mit gesellschaftlicher Unterstützung gibt. In den letzten vier Jahren hat es keinen langfristig angelegten Versuch gegeben, ein solches linkes Projekt zu schaffen. Versuche, mit der Linkspartei und den Grünen gemeinsam ins Gespräch zu kommen, hat es erst im letzten Jahr vor der Bundestagswahl gegeben. Bei den immer noch elementaren ideologischen Unterschieden zwischen Sozialdemokratie und Linkspartei – besonders in der Außenpolitik – braucht ein linkes Projekt mit gesellschaftlicher Unterstützung langfristige Vorbereitung und Gespräche. Ziel muss es sein, linke Themen mehrheitsfähig zu machen. Dafür müssen vor allem auch die 60 Prozent der Gesellschaft erreicht werden, die sich selbst als politisch in der Mitte stehend bezeichnen.                                                                                                                                                                                                                                                                             »» Debatten über Parteistrukturen in der SPD sind dringend notwendig. Ein Teil der Krise unserer Demokratie ist die zunehmend schwächere Bindungskraft von gesellschaftlichen Großorganisationen. Unsere parlamentarische Demokratie funktioniert nur dadurch, dass sich Menschen organisieren. Dass immer weniger Menschen in Vereinen, Parteien, Gewerkschaften oder Kirchen organisiert sind, stellt uns vor eine neue Herausforderung. Wir müssen die Werbung und die Bindung von neuen Mitgliedern in den Mittelpunkt dieser Debatten stellen und unseren Mitgliedern sowohl eine starke Bildungsarbeit als auch identitätsstiftende Momente anbieten. Mitglied der Sozialdemokratie zu sein muss auch ein Lebensgefühl sein. Außerdem brauchen wir eine neue Kultur des offenen inhaltlichen Streites. Als Jusos müssen wir dort wie so oft Vorreiter*innen sein. Auch wir selbst brauchen mehr kontroverse Debatten, die sich an Inhalten und nicht nur an Organisations-Fragen aufziehen.
»» Die Wahlkämpfe in NRW und auf Bundesebene zeigen, dass die SPD sich zu oft mit programmatischer Anspruchslosigkeit zufrieden gibt. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie nur noch vermeintlich Machbares als Forderung aufstellt, anstatt den Anspruch zu erheben, das Machbare selbst zu definieren. Normalverdienenden ist nicht zu erklären, warum sie trotz Jahrzehnten harter Arbeit nur auf ein Rentenniveau von 48 Prozent kommen sollen. Gleichzeitig können es sich viele Menschen nicht leisten, zu „riestern“ oder bei hoher Mobilität Eigentum zu erwerben. Wir sollten die Skepsis gegenüber privater Vorsorge anerkennen und die Gesetzliche Rente besser machen. 48 Prozent Rentenniveau sind für viele Menschen ein Witz – da hilft es nicht, dass die Unionsparteien noch weniger wollen. Auch die politische Forderung nach einer Vermögenssteuer bleibt richtig und hätte ins Wahlprogramm gehört. Wahlprogramme sind der Ort für politische Forderungen – nicht für verfassungsrechtliche Diskussionen. Es ist richtig: Die SPD muss den Menschen zuhören. Aber genauso richtig ist auch: Die SPD ist nur erfolgreich, wenn sie als glaubwürdige Repräsentantin der Interessen von Millionen Beschäftigten, Rentenempfänger*innen, Studierenden, solidarischen Freiberufler*innen, Schüler*innen und anderen Menschen klare Entscheidungen trifft, die das Leben dieser Menschen besser macht. In einer repräsentativen Demokratie ist es die Aufgabe der Parteien, erkennbare Interessenvertretung zu sein. Gerade wenn die Menschen immer individueller werden, ist es doch notwendig, Richtung vorzugeben. Deswegen muss die SPD wieder Richtungspartei werden. Die Richtung kann dabei nur links und vorwärts lauten. Unsere Wahlprogramme haben, wie hier exemplarisch dargestellt, zu oft den Charakter von Verhandlungsergebnissen. Keine Gewerkschaft geht mit Kompromissformeln in Tarifrunden. Wir sollten nicht den schönsten Kompromiss, sondern die klarste Forderung aufstellen, damit man weiß, woran man bei der SPD ist. Als Richtungspartei darf sich die SPD auch nicht scheuen, ihr politisches Handeln anhand langfristiger ideologischer Vorstellungen ableiten zu lassen. Unser politischer Alltag darf kein Reparaturbetrieb sein. Jede politische Maßnahme muss sich daran messen lassen, wie der Beitrag zum noch zu definierenden Ziel des Demokratischen Sozialismus im digitalen Zeitalter aussieht.                                                                                                                                            »» Das historische Versagen, das sich die SPD vorwerfen lassen muss, ist, dass sie auf das Versagen des Neoliberalismus in der großen Finanzkrise keine neue wirtschaftspolitische Deutungshoheit geschaffen hat. Schon in der Weimarer Republik hatte die Sozialdemokratie Probleme, eine eigene pragmatische und glaubwürdige wirtschaftspolitische Erzählung zu finden. Das Ergebnis war eine reine Angebotspolitik, die mit marxistischem Vokabular verkauft wurde. Auch in der frühen Nachkriegszeit blieb der Wirtschaftswissenschaftler Karl Schiller als inhaltliche Opposition zu Ludwig Erhards Ordoliberalismus eine Ausnahme. Erst als Ludwig Erhard in Folge der Rezession von 1966/67 als Kanzler zurücktreten musste, die SPD als kleiner Partner in die Regierung einzog und Karl Schiller Minister wurde, entdeckte die SPD die Lehren des Cambridge-Ökonomen John Maynard Keynes im großen Stil für sich. Die Krise konnte schnell überwunden werden und die Sozialdemokrat*innen erlangten Deutungshoheit über die Wirtschaftskompetenz. Während die Konservativen unsicher und ohne eigene kohärente Erzählung ihrer wirtschaftspolitischen Vorstellung dastanden, in der Großen Koalition die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik sogar unterstützen, gewann die SPD in dieser Zeit von 1966 bis 1973 ungeheuer an Selbstbewusstsein. Den Bruch in der sozialdemokratischen Erzählung einer Gesellschaft, in der alle Krisen durch keynesianische Wirtschaftspolitik kontrollierbar waren, gab es 1973, als mit Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Inflationsrate eine Krise entstand, die es nach reiner keynesianischer Lehre nicht geben durfte und auf die der Keynesianismus keine Antwort wusste. Die hegemoniale Stellung der von der Sozialdemokratie gepredigten keynesianischen Wirtschaft zerbrach. Dass die neoliberale Wirtschaftspolitik, in aller Radikalität konzipiert von Hayek und Friedman, sich nicht zu einem konkurrierenden Gegenmodell gegen den Keynesianismus entwickelt hat, sondern diesen in der Zeit von 1973 bis in die frühen Neunziger Jahre vollkommen ersetzt hat, ist nicht zuletzt dem Argumentationsgeschick der Neoliberalen zu verdanken. Der Keynesianismus habe den Staat zu einem bürokratischen Monster aufgebläht, in dem die Freiheit des Individuums untergehe, so die neue Erzählung. Dieser Narrativ, der zum einen über eine Wertediskussion einen übergriffigen Staat als Bedrohung von individueller Freiheit deklariert und zum anderen dem Staat wirtschaftliche Ineffektivität
vorwirft, hat sich bis zur Finanzmarktkrise 2008/2009 als unantastbare Hegemonie entwickelt. Aber trotz aller Parallelen zwischen dem Scheitern der keynesianischen und der neoliberalen Politik, ist es der Sozialdemokratie nicht gelungen, eine neue Erzählung zu schaffen und Deutungshoheit über wirtschaftspolitische Fragen zu erlangen. Und das, obwohl die intellektuellen Kapazitäten da sind, die die neoliberalen Glaubenssätze zunehmend entzaubern: Thomas Pikety hat die Gefahr mangelnder staatlicher Umverteilung für Demokratie und Wirtschaft analysiert, Colin Crouch hat dargelegt wie der „real existierende Neoliberalismus“ zur Verzahnung von Politik und Großkonzernen geführt hat, Paul Krugman plädiert regelmäßig in seinen öffentlichkeitswirksamen Beiträgen für eine antizyklische – also keynesianisch gedachte – Wirtschaftspolitik in der Krise als Alternative zur Austeritätspolitik und Mariana Mazzucato belegt, dass nur ein aktiver Staat zu technologischer Innovation und damit Aufschwung und Wohlstand führen kann.
»» Ein Zurück zum klassischen Keynesianismus reicht als Antwort definitiv nicht aus. Wir brauchen eine neue Diskussion darüber, welche Aufgaben der Staat für Arbeit, Wirtschaft und Sozialstaat in Zeiten der Digitalisierung übernehmen soll. Eine gute Grundlage dafür liefert die #nichtfürlau Kampagne der NRW-Jusos. Die Ideen dieser Kampagne gilt es in den nächsten Jahren weiterzuentwickeln und verstärkt in die Partei einzubringen. Die Parameter für die weiteren Debatten:
• Digitalisierung ist keine Einbahnstraße. Sie darf nicht Freifahrt für den digitalen Kapitalismus und Stopp für die Errungenschaften demokratischer Mitbestimmung sein. Dort, wo sie aufgrund der Einfachheit digitaler Instrumente mehr Mitbestimmung bringen kann, muss sie Demokratisierungswerkzeug sein. Sei es beispielsweise bei der Beteiligung stadtplanerischer Vorgänge oder die Beteiligung an betrieblicher Mitbestimmung zwischen den Betriebsversammlungen.                                                                                                                                                                                                                                                        • Die Digitalisierung lässt eine Produktionsweise in kleineren und flacheren Hierarchien bei ähnlicher oder besserer Wertschöpfung zu. Dies muss Anlass sein, die Transformation der Wirtschaftsweise so zu gestalten, dass Beschäftigte auch an der Wertschöpfung stärker beteiligt werden.
• Wir müssen für unser Sozialsystem kämpfen. Die Sozialversicherungen sind ein gutes Beispiel für Umverteilung durch die direkte Beteiligung der Unternehmen an der Finanzierung unserer Versicherungssysteme. Weder Google noch Starbucks können hier ihr erfolgreiches Konzept zur Steuerflucht einsetzen. Es muss unser Ziel sein, auch neue Formen der Beschäftigung sozialversicherungskompatibel zu gestalten.
• Fortschritt ist die Grundlage sozialdemokratischer Politik. Wir setzen auf technologischen Fortschritt, den wir im Sinne der Menschen, nicht der Märkte, gestalten wollen. Dafür brauchen wir einen Staat, der nicht nur klassisch keynesianisch nachfrageorientiert unterstützt, sondern durch gezielte Investitionen zur Förderung von Innovation auch angebotsorientiert eingreift.
• Um in Zeiten des globalisierten Kapitalismus wirtschaftliche Vorgänge unter demokratische Kontrolle zu stellen, reichen Nationalstaaten nicht mehr aus. Die Idee eines starken Europas ist nicht zuletzt eine Frage der Gerechtigkeit. Wir müssen die europäische Integration vertiefen um Europa nicht nur als Projekt weniger Eliten zu erhalten. Europa braucht ein neues Aufstiegsversprechen für alle.
• Mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit hängen eng zusammen. Wir müssen vor allem den Menschen, die wirtschaftlich abgehängt werden, wieder stärker in demokratische Prozesse einbinden. Dabei setzen wir bei der Weiterentwicklung der Demokratie nicht auf postmodernen Individualismus, sondern auf eine Stärkung der parlamentarischen Demokratie.
• Die Gleichstellung der Geschlechter muss in allen Bereichen als Querschnittsthema mitgedacht werden. Bebels Satz, dass es keine Befreiung der Menschheit ohne die soziale Unabhängigkeit und Gleichstellung der Geschlechter gebe, bleibt für uns bindend. Auf Grundlage dieser Analyse wird der Landesverband der NRW-Jusos beauftragt, gemeinsam mit der Juso-Region Ostwestfalen-Lippe im Jahr 2018, 40 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage der Herforder Thesen, in einem Kongress die Suche nach einer neuen inhaltlichen Grundlage zu gehen, mit der die Sozialdemokratie wieder linke Mehrheiten schaffen kann.