STUDIEREN OHNE ABITUR – LIPPENBEKENNTNISSE ENDLICH IN DIE TAT UMSETZEN!

In Deutschland ist der Anteil der Studierenden ohne klassische Hochschulzugangsberechtigung (HZB) mit 2,1 % im Vergleich zu anderen europäischen Ländern (bspw. Schweden: Anteil Studierende ohne klassische HZB beträgt 36 %) immer noch verschwindend gering. Ohne außer Acht zu lassen, dass im europäischen Raum die Vergleichbarkeit von beruflichen Ausbildungen und Abschlüssen trotz des Bologna-Prozesses und der Arbeit am Europäischen Qualifikationsrahmen
immer noch sehr schwer ist, fordern wir NRW Jusos nach den offensichtlich zum Papiertiger degradierten Beschlüssen der KultusministerInnenkonferenz (KMK) zur Vereinheitlichung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifizierte aus dem Jahr 2009 und den mangelhaften Versuchen der schwarz-gelben Regierung eines Stipendienprogramms für diese Personengruppe eine bundesweit einheitliche Regelung sowie die flächendeckende Weiterentwicklung des BAföG zur Studienfinanzierung!

NOTWENDIGKEIT EINER BUNDESEINHEITLICHEN REGELUNG
Der sogenannte „Dritte Bildungsweg“ ist in Deutschland weder eine brandneue Entwicklung, noch eine neue Forderung von Gewerkschaften und fortschrittsgewandten BildungspolitikerInnen. Das Land Niedersachsen hat bereits in den 1970’er Jahren die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass auch Menschen ohne Abitur studieren können. Schon im November 2003 haben sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in einer gemeinsamen Erklärung für eine verbesserte Anerkennung außerhalb der Hochschule erworbener Kenntnisse und Fähigkeiten für ein Hochschulstudium eingesetzt. Schließlich beschloss die KMK im März 2009 einheitliche Standards für die Anerkennung von beruflicher Qualifikation, die zu einem Studium befähigt und die von den Bundesländern in der Landesgesetzgebung übernommen werden sollten. Selbst das neoliberale, von der Wirtschaft gesteuerte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) hat sich im September 2009 in einer Studie erstmals mit der Gruppe der sogenannten OA-Studierenden beschäftigt und – natürlich durch die Brille der vom Arbeitsmarkt besser verwertbaren, angeblich höher qualifizierten Abschlüsse – den Gesetzgeber zu notwendigen Modifikationen gemahnt, um beruflich Qualifizierten ein Studium leichter und mit einheitlichen Regelungen zu ermöglichen. Der DGB, die Einzelgewerkschaften sowie die Gewerkschaftsjugenden kämpfen bereits seit Jahrzehnten mit uns Jusos an den zwei Fronten des sozial selektiven deutschen Bildungssystems:

1. Alle Schülerinnen und Schüler aus Familien ohne akademische Tradition müssen bereits während der Schulzeit durch längeres gemeinsames Lernen die Möglichkeit haben, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen, wenn sie dies möchten.
2. Alle beruflich Qualifizierten müssen die Möglichkeit haben, ein Hochschulstudium mit einem Fach ihrer Wahl aufzunehmen, wenn sie es möchten.
Differenzierte und individuell gestaltete Bildungswege gehören für uns NRW Jusos zu einem selbstbestimmten, emanzipierten Leben. Dabei steht für uns die Verwertungsperspektive eines Abschlusses auf dem Arbeitsmarkt nicht an erster Stelle. Bildung ist ein Wert für sich, der jeden Menschen dazu befähigen soll, sein Leben freiheitlich und ohne ökonomische Zwänge zu gestalten – sie ist der Garant für persönlichen und gesellschaftlichen Fortschritt! Die Überwindung von Bildungshürden ist für uns ein wichtiger Gradmesser für eine gerechte Gesellschaft! Die enttäuschenden Zahlen von Studierenden ohne Abitur in Deutschland können deshalb für uns nur eins bedeuten: Die derzeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen sind bei weitem nicht ausreichend. Da es sogar immer noch Bundesländer gibt (Brandenburg und Sachsen), die sich bislang weigern, die Beschlüsse der KMK zur Vereinheitlichung des Hochschulzugangs für beruflich
Qualifizierte in Landesgesetze umzusetzen, muss es endlich ein Bundesgesetz geben, dass den Hochschulzugang einheitlich regelt.

NEUE PERSPEKTIVEN REALISIEREN, BILDUNGSGERECHTIGKEIT VERWIRKLICHEN
Eine bundeseinheitliche Regelung kann jedoch nicht alleine eine Gleichstellung der Studierenden ohne Abitur erreichen. Schließlich müssen die Hochschulen in jedem Bundesland ein entsprechendes flächendeckendes Angebot an beruflich Qualifizierte machen. Hier gibt es bereits vereinzelt gute Beispiele, wie gerade eine berufliche Qualifizierung in einem Studiengang explizit berücksichtigt werden kann: An der Universität Hamburg wird der Bachelor-Studiengang  ozialökonomie
speziell für Studierende ohne Abitur, aber mit beruflicher Qualifikation angeboten. Ein Blick auf den Anteil der Studierenden ohne Abitur in Nordrhein-Westfalen, der bei 4,2 % liegt, beinhaltet einen wichtigen Ansatz zur Gleichstellung aller Studierwilligen: Mit der Fernuniversität in Hagen beheimatet NRW die einzige Hochschule Deutschlands, die sich darauf spezialisiert hat, Vollzeit- und Teilzeitstudiengänge ortsunanbhängig und mit einem Minimum an Präsenzphasen anzubieten. Von diesem Angebot profitieren Studierende in ganz Deutschland. Wir NRW Jusos fordern diesem Erfolgsmodell folgend weitere Fernuniversitäten in Deutschland zu etablieren. Selbstredend sollten diese Fernuniversitäten vollständig durch den Bund finanziert werden, da sich die
Studierenden über die Grenzen von Bundesländern hinweg einschreiben können. Für die NRW Jusos ist dabei ein gänzlicher Verzicht von Studiengebühren selbstverständlich. Auch an der Fernuniversität Hagen kann man noch längst nicht alle Fachdisziplinen studieren. Kooperationsvereinbarungen zwischen diesen Fernuniversitäten und den anderen Hochschulen in regionaler Nähe könnten dazu dienen, flächendeckend Voll- und Teilzeitstudiengänge zur Aus-und Fortbildung anzubieten, um ein staatliches Studium neben der Berufstätigkeit zu ermöglichen. Zudem könnte von der einschlägigen Erfahrung der Fachdisziplinen vor Ort einerseits und den didaktischen Anforderungen an ein Studium ohne durchgängige Präsenzphase andererseits mittels solcher Kooperationen profitiert werden. Natürlich müssen auch an Universitäten und Fachhochschulen mit „normalen“ Präsenzstudiengängen die Hürden für Studierende ohne Abitur fallen. Deshalb fordern wir NRW Jusos vor Ort an den Universitäten und Fachhochschulen den Abbau von jeglichen Zugangshürden wie Interviews, Tests oder dem Probestudium auf Zeit für beruflich Qualifizierte, die für uns ohnehin nur Instrumente sozialer Selektion darstellen. Zudem fordern wir die Korrektur der Inhalte der KMK-Vorgaben von 2009 – Abstufungen und die Einordnung unterschiedlicher beruflicher Qualifikation dürfen nicht
dazu dienen, manche Menschen von einem Studium auszuschließen. Ein unterschiedlicher Erfahrungshorizont (längere Berufserfahrung, Fortbildungen oder ein Meistertitel) sollten sich lediglich in der Möglichkeit niederschlagen, sich bestimmte erworbene Leistungen für ein Studium anrechnen lassen zu können. Hierfür fordern wir NRW Jusos eine zentral geregelte Anerkennungspraxis, die analog zur Anerkennung von ausländischen Hochschulzugangsberechtigungen oder ausländischen Berufsabschlüssen über die KMK geregelt werden könnte.

BEDINGUNGEN FÜR POTENZIELLE STUDIENANFÄNGERINNEN VERBESSERN
Die Entscheidung für ein Studium ist – egal ob mit oder ohne formale Hochschulzugangsberechtigung – immer noch mit finanzieller Unsicherheit und Entbehrungen einhergehend. Das Stipendienprogramm der schwarz-gelben Bundesregierung, welches bezeichnenderweise den Namen „Aufstiegsstipendium“ trägt lehnen wir NRW Jusos, ebenso wie Stipendien zur Studienfinanzierung generell, ab. Alleine die Zahlen der vergebenen Stipendien belegen (im Jahr 2010 nach zwei Jahren Programmlaufzeit waren es sage und schreibe 3.500 Menschen, die gefördert wurden), dass dieses Instrument der Studienfinanzierung mangelhaft für die flächendeckende Erhöhung der Quote der Studierenden ohne Abitur ist. Hingegen ist das Modell BAföG, wie auch abermals von der aktuellen
Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks aus diesem Jahr bestätigt, das Instrument, um Bildungsteilhabe flächendeckend und bedarfsgerecht zu ermöglichen. Wir NRW Jusos fordern die längst überfällige Abschaffung der Altersgrenze für die Gewährung von Bafög, eine von dem Einkommen der Eltern unabhängige Berechnung der Fördersätze und eine Anpassung der Fördersätze an die realen Lebensumstände beruflich Qualifizierter. Unsere Vorschläge zeigen überdeutlich: Bereits mit einigen wenigen Veränderungen könnten studierwillige beruflich Qualifizierte wesentlich einfacher ein Studium aufnehmen. Für die Umsetzung kompletter Chancengleichheit bedarf es vor allem den nötigen politischen Willen. Bildungsgerechtigkeit ist kein sozialromantischer Traum, sondern kann in die Tat umgesetzt werden!