Echte Europäische Mitbestimmung

In Deutschland hat ArbeitnehmerInnenmitbestimmung eine lange Tradition. Viele der von ArbeitnehmerInnen hierzulande als selbstverständlich angesehenen Rechte, mussten von Betriebsräten, Gewerkschaften und der Sozialdemokratie erst mühsam erstritten werden. Im Europäischen Vergleich verleihen die Regeln der betrieblichen Mitbestimmung in der Bundesrepublik den Belegschaften hierzulande einen privilegierten Status. Seit vielen Jahrzehnten schreitet in Europa die Integration des Binnenmarktes voran und so wurde im Jahr 1994 eine Richtlinie über die Einrichtung von Eurobetriebsräten (EBR) erlassen. Die Richtlinie regelt die Voraussetzungen für die Gründung von gemeinsamen Betriebsräten für solche Unternehmen, die in verschiedenen Mitgliedsländern Niederlassungen betrieben. Im Jahr 2009 erfuhr diese Richtlinie ihre bislang erste und letzte Novellierung. Im April 2011 gab es nach Zahlen der Hans-Böckler-Stiftung in der EU rund 1000 aktive EBR, in denen die Interessen von etwa 18 Millionen Beschäftigten vertreten wurden. Die Notwendigkeit solcher Gremien liegt auf der Hand: Mit steigender Integration in Europa, erhöht sich unter anderem die Gefahr, dass ArbeitnehmerInnen verschiedener EU-Länder gegeneinander ausgespielt werden. Neben einheitlichen Sozialstandards, gleichen Vorschriften zur Arbeitssicherheit, einem europäischen Mindestlohn und wirksamen Maßnahmen gegen Steuerwettbewerb zwischen den EU-Ländern müssen deshalb auch bei der ArbeitnehmerInnenmitbestimmung die Rahmenbedingungen angeglichen werden.

Eurobetriebsrat und Europäische Mitbestimmung – Mängel und Defizite

Die unterschiedliche Rechtslage bei der ArbeitnehmerInnenmitbestimmung in Europa ist eines der wesentlichen Probleme von ArbeitnehmerInnenvertretungen international agierender Unternehmen. So entscheidet der Konzernsitz über die Rechte und Möglichkeiten des EBR. Dadurch trägt die EBR-Richtlinie je nach Konstellation eigenwillige Stilblüten: Hat ein Konzern etwa seinen Sitz in Straßburg, so gilt für den EBR des Unternehmens französisches Recht. Der Konzernchef bekleidet in diesem Fall auch den Posten des Betriebsratschefs und mitzuentscheiden haben die Beschäftigten im Wesentlichen nichts. Sie werden – wenn überhaupt – lediglich angehört. Lässt sich der gleiche Konzern im wenige Kilometer entfernten baden-württembergischen Offenburg nieder, so gilt deutsches Recht. Die MitarbeiterInnen des Konzerns hätten in diesem Vergleich weitreichende Mitbestimmungsrechte. Auch die Regeln zur Entsendung von VertreterInnen in den EBR sind europaweit sehr unterschiedlich. Die Richtlinie lässt den jeweiligen Ländern freie Hand. So kann es vorkommen, dass die Konzernbelegschaft eines osteuropäischen Landes nicht eine/n VertreterIn aus ihren Reihen in den EBR wählt, sondern ein/e leitende/r Angestellte/r in den EBR entsandt wird. Neben der Rechtslage unterscheidet sich auch die Kultur der Mitbestimmung innerhalb der EU teilweise deutlich von der in Deutschland ausgeprägten Bereitschaft der ArbeitnehmerInnen, sich an Mitbestimmungsmöglichkeiten zu beteiligen.

Anforderungen an Europäische Mitbestimmung

Auf allen möglichen Politikfeldern werden Spielregeln für Privatleute und Unternehmen harmonisiert. Bei der Mitbestimmung kann davon nach derzeitiger Rechtslage keine Rede sein. Wir NRW Jusos setzen uns dafür ein, dass alle Menschen in Europa die gleichen Rechte haben. Dazu zählt auch das Recht von ArbeitnehmerInnen, ihre Interessen wirksam ggü. ArbeitgeberInnen vertreten zu können. Dazu muss die EU-Kommission zeitnah entsprechende Vorschriften auf den Weg bringen. In den kommenden Monaten und Jahren wollen wir dies öffentlich und gegenüber den Sozialdemokratischen Fraktionen im Europäischen Parlament und im Deutschen Bundestag sowie gegenüber den sozialdemokratischen Mitgliedern der Europäischen Kommission und der Deutschen Bundesregierung vertreten. Unsere Forderungen für ein neues europäisches Mitbestimmungsrecht:

ü Angleichung der Kündigungsschutzvorschriften – insbesondere für Betriebsräte – innerhalb der EU.

ü Aktives und passives Wahlrecht für alle MitarbeiterInnen und keine Entsendung von EBR-Mitgliedern durch die Geschäftsführung.

ü Keine Leitenden Angestellten im EBR zuzulassen.

ü Echte Mitbestimmung und nicht nur bürokratische und unwirksame Anhörungsverfahren.

ü Paritätische Besetzung von Aufsichtsräten in allen EU-Ländern.

Kultur der Mitbestimmung in Europa prägen Die Arbeitsmärkte in Europa sind auch 2014 nicht endgültig integriert. Während bei der Frage des Qualifizierungsniveaus mit dem Europäischen Qualifizierungsrahmen (EQR) der Versuch unternommen wird, die verschiedenen Bildungs- und Ausbildungssysteme vergleichbar zu machen, sind Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede auch heute noch ein Grund, weshalb die Integration des Arbeitsmarktes der Integration der übrigen Faktormärkte noch weit hinterher hinkt. Darin besteht ein Grund für die noch immer sehr unterschiedliche Kultur betrieblicher Mitbestimmung in der EU. Unsere Forderung für eine gemeinsame Kultur der ArbeitnehmerInnenmitbestimmung in Europa:

ü „Blick über den Tellerrand“ bereits in der Berufsausbildung: Auszubildende sollen verstärkt für die spezifischen Herausforderungen der europäischen Integration für die betriebliche Mitbestimmung sensibilisiert werden.

ü Analog zum ERASMUS-Programm für Studierende soll ein Austauschproramm für Auszubildende und BerufsschülerInnen in der EU etabliert werden.

Vorsicht vor Anpassungsverlusten

An gemeinsamen europäischen Regeln für die ArbeitnehmerInnenmitbestimmung führt für uns NRW Jusos kein Weg vorbei. Nur so können wir gleiche Rechte für alle ArbeitnehmerInnen in der EU erreichen und Belegschaften in die Lage versetzen, sich den spezifischen Nachteilen erwehren zu können, die aus europaweit agierenden Konzernverbünden resultieren. Dennoch warnen wir vor etwaigen Niveaueinbußen in der ArbeitnehmerInnenmitbestimmung im Zuge einer europäischen Harmonisierung. Die Politik der Europäischen Union war in den letzten Jahrzehnten vor allen Dingen dem Ziel freier Märkte und möglichst niedriger Sozialstandards verschrieben. Es sind Marktliberale und Konservative gewesen, die wesentliche Rahmenbedingungen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion vorgaben. Wenn die deutschen Mitbestimmungsregeln im europäischen Vergleich besonders weitreichend sind, dann besteht zumindest die Gefahr, dass sich im Zuge einer Harmonisierung eine Angleichung der Mitbestimmungsrechte auf relativ niedrigem Niveau ergibt. Dieser Gefahr muss man begegnen. Unbeschadet unserer Forderung nach gleichen Standards, darf der Europäische Integrationsprozess nicht zur Unterwanderung von ArbeitnehmerInnenrechten missbraucht werden.