Gefängnisse und Kriminalitätserfassung feministisch umbauen! Transformative Gerechtigkeit stärken!

Das heutige Strafjustizsystem mit seinen verschiedenen Elementen ist durch seine historische Entwicklung durch reiche, weiße Männer beeinflusst und dominiert. Dieses Sinnbild patriarchaler Machtausübung schlägt sich nieder in der Frage, was kriminalisiert wird, wie und von wem Strafverfolgung stattfindet und wie die Gesellschaft mit sozial konstruierter Kriminalität umgeht. Neben den Sicherheitsbehörden wie der Polizei stellen das karzerale Strafvollzugswesen und die Erfassung der darin behandelten Kriminalität zentrale und dringend zu reformierende Elemente des Strafjustizsystem dar.

Strafjustizsystem und Gefängnisse

Unsere geschlechtsspezifische Sozialisation reicht bis in das Kriminalitätsverhalten und das Strafvollzugswesen herein. Dieses ist heteronormativ organisiert und dabei besonders an der männlichen Norm orientiert, was zur Benachteiligung der Bedürfnisse von allen führt, die nicht männlich sind oder so gelesen werden. Der Anteil von weiblichen Personen an den Gefängnisinsass*innen in der Bundesrepublik Deutschland beträgt circa 6 %. Frauen begehen tendenziell weniger schwere Straf- und Gewalttaten als Männer, sodass sie auch überwiegend geringere Sanktionen und kürzere Haftstrafen verbüßen müssen. Durch ihren geringen Anteil und die kürzere Verweildauer sind die Bedingungen vor Ort oftmals nicht angemessen auf sie eingestellt. So leiden Frauen und weiblich Gelesene mehr unter der Zerrüttung der familiären Strukturen durch ihren Haftaufenthalt, was künftiges straffälliges Verhalten fördert. Bei Frauen und weiblich Gelesenen ist der Anteil der Betäubungsmittelabhängigen mit circa der Hälfte größer als mit einem Drittel bei den Männern, ohne dass allerdings Betäubungsmittelabhängigkeit hier besonders thematisiert wird. Außerdem sind viele der weiblichen Inhaftierten Opfer von sexueller Gewalt oder sexuellen Übergriffen gewesen, sodass die Tendenz besteht, dass sie nach ihrer Entlassung wieder in gewalttätige Beziehungen zurück geraten. Hier braucht es dringend andere Unterstützungsangebote. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Suizidalität sind häufig eine Folge der Inhaftierung, sodass eine auf diese Bedürfnisse ausgerichtete soziale Unterstützung und Möglichkeiten zur Aufarbeitung von Traumata, sowie die Erarbeitung von konstruktiven Bewältigungsmechanismen nötig ist. Gerade das ist allerdings in Männeranstalten gar nicht der Fall. Schließlich wird auch die medizinische Versorgung nicht den reellen Ansprüchen gerecht, da insb. die Regelungen zur Empfängnisverhütung, Abtreibungen und der Sterilisation ohne medizinische Indikation lückenhaft sind. Weiter beachtet das Strafjustizsystem nicht die doppelte Bestrafung von straffällig gewordenen Frauen und nicht binären Menschen, da diese einmal durch die Verurteilung an sich und zusätzlich noch durch die Verletzung der ihnen zugeschriebenen weiblichen Geschlechterrolle gesellschaftlich bestraft werden. Die Sanktionen durch die Verurteilung wirken daher umso stärker. Dies sollte im Strafmaß unter Beleuchtung aller Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden.

Schutzräume nicht vorhanden – Trennungsgebote nicht umgesetzt

Oftmals werden die Trennungsgebote zwischen Untersuchungshaft und Strafvollzug, Erwachsenen- und Jugendhaft sowie Männer- und Frauenvollzug nicht eingehalten. Weibliche Inhaftierte waren in Deutschland in 45 Anstalten untergebracht, wobei es in Deutschland nur 5 reine Frauen-Justizvollzugsanstalten gibt. Das bedeutet, dass weniger als die Hälfte der weiblichen Inhaftierten in reinen Frauenanstalten untergebracht ist und ein Großteil ihre Strafen in gesonderten Frauenabteilen von Männeranstalten verbüßt. Doch auch die Anzahl an Männeranstalten, die bundesweit Frauen und nicht binäre Menschen aufnehmen, reicht nicht aus, sodass der Frauenvollzug bundesweit überbelegt ist und die Frauen und nicht binäre Menschen nicht wohnortnah untergebracht werden können. Die große Entfernung zum Wohnort stellt ein Hindernis sowohl bei der Kontaktaufrechterhaltung mit der Familie und Freund*innen, als auch bei der Entlassungsvorbereitung dar. Durch die große Distanz ist es bei Vollzugslockerungen schwieriger, Besuche Zuhause abzustatten und es wird bei der Wiedereingliederung auf große Distanz schwieriger, sich eine neue Arbeitsstelle zu suchen. Das steht dem Resozialisierungsziel des Strafvollzugs gemäß § 1 S. 1 StVollzG NRW entgegen und benachteiligt Frauen und nicht binäre Menschen damit mit Blick auf ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft und zurück in ein Leben in sozialer Verantwortung und ohne Straftaten. Darüber hinaus werden Frauen häufig wegen straffälliger männlicher Partner ebenfalls straffällig. Ein Strafjustizsystem muss dafür sorgen, dass Menschen, welche mit diesen in Berührung kommen, nicht in die gleichen negativen Abhängigkeitsverhältnisse geraten.

Arbeits- und Ausbildungssituation

Bezüglich der Arbeits- und Ausbildungssituation ergeben sich weitere Besonderheiten: Viele befinden sich tendenziell in einer sozio-öknomischen ungünstigeren Lage, verfügen über keine abgeschlossene Berufsausbildung, weisen einen höheren Anteil an Sozialhilfeempfängerinnen und damit auch eine niedrigere Beschäftigungsquote auf. Das Ausbildungsangebot ist gerade in kleineren Haftanstalten meist auf „klassische Frauenberufe“ beschränkt. Ebenfalls sind die Chancen durch ihren Lebenslauf und die Haft auf dem Arbeitsmarkt erheblich eingeschränkt, wenn mancherorts nur eine begrenzte Anzahl an Ausbildungsberufen möglich sind, die häufig als schlecht bezahlte Berufe kaum Perspektive für ein finanziell abgesichertes Leben außerhalb der Haft bieten. Des Weiteren sind die Beschäftigungsmöglichkeiten insgesamt unzureichend, wodurch die Frauen und nicht binären Menschen beschäftigungslos bleiben und nicht die Chance haben, ihre Schulden zu tilgen oder sich Rücklagen aufzubauen. Gänzlich aus dem Raster fallen diejenigen, deren Haftzeit zu kurz für die Wahrnehmung eines Ausbildungsangebots ist, oder die wegen ihres zu geringen Bildungsniveaus nicht für die Teilnahme geeignet sind. Hier braucht es bessere Bildungs- und Hilfsangebote, welche sich auch auf die Bereiche von psychosozialer Beratung erstrecken sollten. Hier ist auch eine Kooperation mit ortsansässigen Berufsschulen denkbar. Dies würde sowohl das Problem der für eine gesamte Ausbildung zu kurzen Haftzeit, als auch das der mangelnden Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten angehen.

Gefängnisse mit zweifelhafter Legitimität und Nutzen

Es kann kein Antrag zum Strafjustizsystem gestellt werden, ohne eine grundsätzliche Kritik an Gefängnissen miteinzubeziehen. Gefängnisse sind der ultimative Ausdruck des staatlichen Gewaltmonopols, jedoch mit zweifelhafter Legitimität. Menschen in Gefängnissen sind der staatlichen Gewaltausübung schutzlos ausgeliefert und sind dabei einem massiven Machtgefälle unterworfen, in welchem sich Rassismen und Sexismen wiederfinden. Zudem tritt der Staat selbst häufig als Täter auf, bspw. in Fällen von Polizeigewalt gegen BIPoC.

Gerade Konservative sehen in Gefängnissen ein Mittel gegen sexualisierte Gewalt aufgrund einer angeblichen Präventiv- bzw. Abschreckungswirkung. Allerdings ist diese weitgehend widerlegt und damit auch kein ausreichender Legitimationsgrund. Im Gegenteil besteht ein empirisch belegtes erhöhtes Risiko, im Gefängnis sexualisierte Gewalt zu erfahren. Die Vergewaltigungen zwischen Männern im Gefängnis dienen nicht primär der sexuellen Befriedigung, sondern sind Ausdruck der vorherrschenden gesellschaftlichen Misogynie. Vorstellungen wie “jemanden zur Frau machen” und die damit verbundene Sicherung von Machtpositionen kommen hier zum Tragen. Darüber hinaus sind Sicherheitsbehörden wie Polizei und Justizvollzugsanstalten patriarchale Organisationen und können damit keine wirksamen Mittel zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt sein. Die Effektivität der Gefängnisse als Mittel gegen sexualisierte Gewalt ist auch vor dem Hintergrund, dass nur 0,38 % aller Sexualstraftaten zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung führen, sehr fraglich. Das primäre Ziel der Sicherung der gewaltausübenden Person wird also kaum erfüllt, sondern das Problem nur in den Haftkontext verschoben.

Gefängnis als Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit

Darüber hinaus werden mit der Fokussierung eines Strafjustizsystems auf Gefängnisse und Einzelverurteilungen zentrale Bedürfnisse der Betroffenen missachtet und es kommt zu einer Individualisierung der Täter*innen. Zentral für die Verarbeitung des Erlebten ist die Anerkennung der Schuld durch die Täter*innen und die Entschuldigung und Reue gegenüber der Betroffenen und Opfer. Dies ist ohne Geständnis aber kaum möglich, was wiederum die Verurteilung garantieren würde und daher nur selten passiert. Die Herbeiführung von Gerechtigkeit für die Betroffenen und Opfer spielt nur eine untergeordnete Rolle. Opfer dienen der Strafverfolgung maximal als Beweismittel in Form von Zeug*innenaussagen. Erneut wird das Patriarchat als grundlegende Ursache für geschlechtsspezifische Gewalt nicht mitbetrachtet und verliert somit auch an gesellschaftspolitischer Aufmerksamkeit. Das Gewaltnarrativ einzelner Vorfälle physischer Gewalt gewinnt gegenüber dem eigentlich ursächlichen, sozialisierten mangelnden Kontrollverhalten und misogyner Praxis. Eine Verhaltensänderung bei der gewaltausübenden Person wird nicht ausreichend angestoßen. Eine solche würde individuell einer wiederholten Gewaltausübung vorbeugen und strukturell die patriarchale Gewalt produzierenden Wirkungsmechanismen anerkennen und diesen entgegenwirken. Ein Strafjustizsystem, welches diese zentralen Punkte außer Acht lässt, kann und darf nicht bestehen bleiben. Eine feministische Umstrukturierung ist alternativlos.

Abolitionismus, Transformative Gerechtigkeit und Forderungen

Gehalte der Abolitionismus-Bewegung und der transformativen Gerechtigkeit sind demnach im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt deutlich vorzugswürdiger. So braucht es einen Ausbau des sog. Täter-Opfer-Ausgleichs. Weitere – auch gesellschaftliche – Maßnahmen der Verantwortungsübernahme und Verhaltensänderung der gewaltausübenden Personen sind unabdingbar. Es geht hierbei darum, nicht-staatliche Institutionen und Räume für eine gesellschaftliche Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht für entstandene Verbrechen zu schaffen. Die Unabhängigkeit von einer staatlichen patriarchalen Schutzmacht ist notwendig, um den liberalen negativen Schutzbegriff abzulegen und tatsächliche positive Sicherheit herstellen zu können. Es braucht mehr Mittel für psychosozialen Beratungsstellen und Notdienste, Sozialarbeiter*innen, Bildungseinrichtungen, Hausprojekte, Frauenhäuser und insb. der Aufbau von Strukturen transformativer Gerechtigkeit zu fördern. Hilfsangebote dürfen dabei nicht der kapitalistischen Gewinnmaxime unterworfen werden. Sie müssen durch öffentliche Gelder ausfinanziert werden. Andere Maßnahmen außerhalb des Strafjustizsystem wie bezahlbare Mieten, günstige Lebensmittel und soziale Gerechtigkeit stellen tatsächliche Sicherheit her und müssen als solche stärker verfolgt werden.

Die Umstrukturierung und teilweise Auflösung des bestehenden Strafjustizsystems ist notwendig, da das jetzige karzerale System gesellschaftliche, strukturelle Diskriminierungsformen sowie Macht- und Gewaltverhältnisse zulässt und gleichzeitig an einer falschen Vorstellung von sicherheitsschaffenden Maßnahmen festhält. Gleichzeitig verschlimmern sich die bestehenden Verhältnisse, da das bestehende patriarchale, kapitalistische und rassistische System Kriminalitätsgründe reproduziert und vermehrt. Neben kurzfristigen Mindeständerungen ist daher eine grundlegende Reform dringen notwendig.

Wir fordern:

  • besondere Schutzräume für Menschen außerhalb des heteronormativen Systems
  • Schaffung bundeseinheitlicher Regelungen zum Umgang mit INTA Personen im Strafvollzug
  • umfassende soziale, finanzielle, psychische und gesundheitliche Unterstützung und Versorgung von FINTA in und nach der Haft in Form von Beratungs- und Therapieangeboten für Sucht- und andere psychische Erkrankungen
  • verbesserte, auf die Bedürfnisse der Inhaftierten abgestimmte Haftbedingungen:
    • Ausbau von Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten mit der Chance auf echte wirtschaftliche Unabhängigkeit, auch für kurzfristige Aufenthalte
    • Einhaltung der Trennungsgebote zu männlichen Inhaftierten, zwischen verschiedener Schweregraden von Straftaten und Alter der Inhaftierten
    • Besondere Aufenthalts- und Begegnungsräume, welche auch Kinder gerecht ausgestaltet sind
    • Wohnortnahe Unterbringungsmöglichkeiten, auch in anderen Modellen als der klassischen Haftanstalt
    • Finanzielle Unterstützung und infrastrukturellen Ausbau der Besuchsmöglichkeiten
  • Grundlegendes Umdenken in der Nutzung von Gefängnissen und eine gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit Kriminalität nach abolitionistischer Vorstellung
  • Umbau und Ergänzung des Strafjustizsystems nach Ansätzen transformativer Gerechtigkeit, insb. durch Umverteilung finanzieller Mittel
  • Verteilung der Finanzmittel zugunsten von Beratungsangeboten und zivilgesellschaftlichen Schutzräumen und damit ein Fokus auf nachhaltige Prävention statt reaktive Repression
  • Schaffung zivilgesellschaftlicher Institutionen kollektiver Verantwortlichkeit zur Beendigung geschlechtsspezifischer Gewalt

Kriminalstatistiken

Verdunkelungsgefahr: Die Schwächen verzerrter Hellfelddaten

Kriminalstatistiken nehmen in unserem Rechtsstaat eine machtvolle Position ein. Sie sind Grundlage für zentrale und wirkungsstarke innen- und sozialpolitische Entscheidungen und haben eine massive mediale und gesellschaftliche Aussagekraft und Rezeption. Damit beeinflussen sie auch den politischen Meinungsbildungsprozess. Wenn in Medien und Politik von Statistiken die Rede ist, wird sich oft auf sogenannte Hellfelddaten wie die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) bezogen. Diese wird im Bund vom Bundeskriminalamt (BKA) herausgegeben und bietet einen Überblick über die in Deutschland jährliche registrierte Kriminalität. Und hier beginnen bereits die ersten Probleme: Weil die Hellfeldstatistiken wie die PKS nur die polizeiliche registrierte, also bekannt gewordene Kriminalität abbilden, lassen sich aus ihr schwerlich Verallgemeinerungen für die tatsächliche Verbreitung bestimmter Delikte ableiten. Schätzungsweise decken die offiziellen Kriminalstatistiken nur 70-80 % der begangenen Straftaten ab. Neben der Tatsache, dass Hellfeldstatistiken demnach nie repräsentativ für die Gesamtheit der Straftaten sind und ein geringeres Kriminalitätsausmaß als das tatsächliche suggerieren, sind die dort erfassten Daten in ihren Proportionen hinsichtlich der Deliktsarten und bestimmten Bevölkerungsgruppen verschiedenen Verzerrungsfaktoren unterworfen:

Anzeigenerstattung – Wer zeigt Straftaten an und welche werden angezeigt?

Geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt, Missbrauch von Kindern, behinderten und älteren Menschen sind in den offiziellen Statistiken stark unterrepräsentiert! Um in der PKS aufzutauchen, muss zunächst die Ermittlungsbehörde Kenntnis von der Straftat erlangen. Das tut sie in 90% der Fälle nicht durch eigene Ermittlungen, sondern durch die Erstattung einer Anzeige. Dabei hängt die Anzeigebereitschaft in der Gesellschaft maßgeblich von den Straf- und Kriminalitätseinstellungen, die wiederum ihrerseits von Vorurteilen und Sozialisation, der öffentlichen Kriminalitätsdiskussion sowie der Beziehung zwischen Täter*in und Opfer ab. Die Gründe, warum zahlreiche Delikte nicht angezeigt werden, sind vielseitig und erfordern politisches Handeln.

Zum einen wirken enge persönliche, soziale oder organisatorische Beziehungen selbst bei schweren Delikten wie Gewalt- oder Sexualdelikten hindernd für eine Anzeige, sodass das Hellfeld hier kaum Aufschluss über den tatsächlichen Umfang geben kann. Dies sind Delikte die vor allem FINTA*-Personen betreffen. Die gewalttätige Person übt typischerweise Kontrolle und Macht über das Opfer aus. Insb. ist dies der Fall bei Misshandlung älterer Menschen oder Kindern, sexualisierter und häuslicher Gewalt. Gründe dafür finden sich auch in der langanhaltenden Trennung der privaten und öffentlichen Sphäre: Das, was zuhause in der kapitalistischen Kleinfamilie passiert, bleibt zuhause. Hier ließe sich auch aus Perspektive transformativer Gerechtigkeit über andere gemeinschaftlich-orientierte Wohnkonzepte als Mittel gegen geschlechtsspezifische Gewalt nachdenken.

Institutionell stellt die Polizei als Ort der Anzeigeerstattung hinsichtlich ihrer patriarchalen Organisation keinen sicheren Raum für Betroffene von geschlechtsspezifischer bzw. sexualisierter Gewalt dar. Die Angst davor, dass den eigenen Schilderungen nicht geglaubt, sie abgetan oder relativiert werden oder eine Partizipation an dem strafrechtlichen Aufklärungsprozess erneut traumatisierende Wirkung haben kann, hemmt die Anzeigebereitschaft gerade der Opfer sexualisierter Gewalt und Hassverbrechen. Hier müssen umfangreiche Schulungen der Polizeibeamt*innen im Dienst stattfinden und der Umgang mit Opfern geschlechtsspezifischer Gewalt und Hassverbrechen fester Bestandteil in der Ausbildung werden und geschulte Beamt*innen schnell verfügbar sein. Auf Wunsch sollte es Frauen ermöglicht werden, die Anzeigeerstattungs- und Aussagegespräche mit einer Frau zu führen. Zudem wirkt sich ein berechtigtes fehlendes Vertrauen in die Unterstützung und Konsequenzen durch Strafjustizsystem, Polizei und Gesellschaft hemmend auf die Anzeigenerstattung aus. Selbst im Hellfeld liegt die Verurteilungsrate bei nur 10 % der angezeigten Sexualstraftaten. Von den verurteilten Fällen kommt es zudem nur in 2 % zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Im Kontext des Dunkelfeldes folgt also auf nur 0,38% aller Sexualstraftaten eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Ein weiterer Aspekt ist die Angst vor öffentlicher Verurteilung und vor den Konsequenzen, wenn eine Verurteilung ausbleibt.

Anzeigenregistrierung – Wie geht die Polizei mit Anzeigen um?

Auch der Vorgang der Registrierung durch die Ermittlungsbehörde verzerrt die Daten. Faktoren wie Ressourcenmangel, politischer Druck oder individuelles Ermessen der Polizeibeamt*innen beeinflussen die Erfassungspraktiken und den Ermittlungsnachdruck. Bei der Aufnahme und Verfolgung von Straftaten kommt der Polizei ein enormer Entscheidungsspielraum zu, da die Registrierung und Bewertung von Kriminalität stets in einem Zuschreibungsprozess steht bzw. den individuellen Welt- und Wertvorstellungen der Beamt*innen unterworfen ist. Daraus ergeben sich für die Entstehung und Verfolgung eines Anfangsverdachts Einfallstore für Diskriminierungen von Minderheiten: Umfangreich durch aktuelle Dunkelfeldstudien belegte rassistische, sexistische, queerfeindliche oder klassistische Einstellungen innerhalb der Polizei und Staatsanwaltschaft können den Registrierungsprozess also wesentlich beeinflussen. So wirkt sich die Idee des kriminologisch beschriebenen “echten” Opfers mit zutiefst sexistischen Vorstellungen aus: Das ideale Opfer darf keine soziale oder verwandtschaftliche Verbindung zur gewaltausübenden Person aufweisen und keine angebliche “Mitverantwortlichkeit” für die Tat bspw. durch das Tragen kurzer Kleidung haben. Betroffene, die nicht den gesellschaftlichen Ansprüchen eines solchen Opfers entsprechen, machen häufig retraumatisierende Erfahrungen in Behörden und Strafverfahren sowie außerhalb des Strafjustizsystems.

Ermittlungsverhalten – Wie und wonach wird ermittelt?

Für die angesprochenen 10 % der Delikte, die der Polizei durch eigene Ermittlungen bekannt werden, ist ein weiterer verzerrender Faktor relevant: der konkrete Einsatz der Ermittlungsressourcen der Polizei. Insb. Deliktsfelder, die häufig Gegenstand des politischen Diskurses sind, werden dabei schwerpunktmäßig ermittelt. Bereiche wie die Organisierte Kriminalität, Drogenkriminalität oder Politisch Motivierte Kriminalität haben damit ein deutlich größeres Hellfeld als geschlechtsspezifische Gewalt. Ganz erkennbar findet sich diese politische Priorisierung bei der von NRW-Innenminister Reul angeordneten rassistischen Verfolgung sog. “Clan-Kriminialität”: Staatliche Gewaltausübung für das eigene Wähler*innenklientel auf Kosten von migrantisierten und rassifizierten Menschen. Diese Disproportionalität hat massive Folgen: Wenn bestimmte Deliktsbereiche oder bestimmte Bevölkerungsgruppen von den Statistiken überproportional erfasst werden, beeinflusst dies wiederum den Einsatz der polizeilichen Ressourcen und die strategische Ausrichtung. Dies führt dann zu einer Behandlung von gesellschaftlichen Problemen wider der Realität und beeinträchtigt die Wahrnehmung und Reaktion von Staat und Gesellschaft in Bezug auf die Verbreitung bestimmter Kriminalitätsphänomene wesentlich. Es bildet sich ein sich selbst legitimierender Kreislauf: Die politisch vorgegebene Stoßrichtung beeinflusst die Ermittlungen und damit für die Kriminalstatistiken, welche wiederum die medialen wie politischen Debatte um bestimmte Kriminalitätsfelder befeuern. Diese wird seitens der Politik Grundlage eines noch härteren Vorgehens. Zudem wird erneut eine falsche Neutralität der polizeilichen Arbeit und der Kriminalstatistiken konstruiert. Erstere steht in großer Abhängigkeit, die bspw. von Reul vorgegebene Ziele zu erreichen, um Finanzierung, Ausstattung und Kompetenzausweitung zu sichern. Die Unterrepräsentation von geschlechtsspezifischer Gewalt in den Kriminalstatistiken und in der Priorisierung der Ermittlungsschwerpunkte sind Sinnbild für die mangelnde Rezeption des Strafjustizsystems von dem Wirkungsmechanismus hinter dieser Gewalt: Geschlechtsspezifische Gewalt zielt auf die Erhaltung von Macht und Kontrolle ab. Diese patriarchale Perspektive greift deutlich zu kurz und verkennt die Realität.

Jahrelanger Missbrauch als eine Straftat? – Kategorisierung von Hellfelddaten

Auch die Art und Weise, wie Straftaten im Hellfeld kategorisiert und definiert werden, verzerrt die Wirklichkeit: Das starre Kategoriensystem mag Vergleichbarkeit in Zeit und Raum, also über Jahre und Bundesländer, schaffen, stellt aber einzelne Kriminalitätsphänomene undifferenziert und verkürzt dar oder hebt andere ohne sachlichen Grund besonders hervor. So werden wiederholte, jahrelange Missbrauchsfälle in der Statistik als ein bekannt gewordenes Sexualdelikt abgebildet. Die tatsächliche Anzahl an Gewalttaten wird damit bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Dass offizielle Hellfeldstatistiken und Lagebilder, die sog. Clankriminalität gegenüber sonstigen organisierten Kriminalitätsstrukturen gesondert und ausdrücklich allein anhand ethnisierender Merkmale wie einer türkisch-arabischen Abstammung darstellen und dabei bestimmte Familiennamen als Recherchestrategie nutzen, zeigt, dass schon die vorgegebenen Kategoriensysteme der Hellfelderfassung eine politische patriarchale und rassistische Agenda verfolgen. Wenn wie hier schon vom Ansatz her rassistische Kategoriensysteme aufgestellt werden, statt objektive, verhaltensbezogene Variablen zur Ausgangslage von Erfassung und Verfolgung organisierter Strukturen zu machen, werden ganze Bevölkerungsgruppen aus rassistischen Motiven unter Generalverdacht gestellt und polizeiliche Ressourcen für eine mindestens fragwürdige politische Agenda verpulvert. In dem das Landeskriminalamt NRW ein gesondertes Lagebild zum vermeintlich eigenständigen Kriminalitätsphänomen der sog. Clans herausgibt, reproduziert es also Stereotype und wirkt auf den gesellschaftspolitischen Diskurs ein.

Licht ins Dunkel bringen – Dunkelfeldstudien und Forderungen

Ein Licht ins Dunkel bringen von polizeilicher und politischer Seite stark vernachlässigte Dunkelfeldstudien. Diese umfassen Opfer-, Täter*innen- und Expert*innenbefragungen. Vorteile dieser Erhebungsweise sind bei repräsentativer Stichprobe die Verallgemeinerungsfähigkeit und die Erfassung von Erklärungszusammenhängen, die einen differenzierteren, ursachenbezogenen Umgang mit Kriminalität erlauben. Optimalen Falls wird Dunkelfeld-Forschung umfassend und über einen langen Zeitraum betrieben und liefert damit ein ergänzendes Korrektiv der offiziellen Statistiken, insb. im Bereich von Deliktsfeldern, die von der PKS schlecht erfasst werden, wie sexueller Missbrauch oder geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt. Zusammengefasst in aller Deutlichkeit: Hellfeldstatistiken sind verzerrt, nicht-repräsentativ, beeinflussbar, beeinflussend und undifferenziert. Wir fordern daher:

  • Eine sachgerechte Interpretation und Rezeption aller empirischen Daten, statt populistischer Instrumentalisierung verzerrter Hellfelddaten
  • Die Berücksichtigung von Dunkelfeldstudien, statt die alleinige Zugrundelegung polizeilich erfasster Daten
  • Die finanzielle Förderung und Berücksichtigung bestehender wissenschaftlicher Erkenntnisse, statt symbolpolitische Pläne über neue, eigene Studien in bereits seit Jahrzehnten gut erforschten Kriminalitätsbereichen
  • Die Förderung feministischer Kriminologie zur Aufdeckung unterdrückender und patriarchaler Strukturen im Strafjustizsystem, statt die Reproduktion sozial-konstruierter Geschlechterrollen im Kriminalitätskontext
  • Den Abbau vorverurteilender Einstellungen und anzeigehemmenden Verhaltens bei den Anzeigebehörden durch gesonderte Schulungen und Weiterbildungen, statt struktureller Billigung der Suche nach “Mitverantwortlichkeit” der Opfer
  • Die Ausrichtung kriminalpolitischer Initiativen nach repräsentativen (Dunkelfeld-) Daten der Wissenschaft, statt unreflektierter Law-and-Order-Politik
  • Differenzierte, objektive Erfassungsmethoden/-kriterien innerhalb der polizeilichen Statistiken und Lagebilder, statt diskriminierender, politisch aufgeladener Variablen, bspw. durch die Erfassung von Missbrauchszeiten und Umfang von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt
  • Eine Fehlerkultur in staatlichen Behörden wie der Polizei, die sachliche, seriöse und evidenzbasierte Kritik zulässt oder bestenfalls wünscht, statt jedes kritische Wort als “Angriff auf die Polizei” oder “Polizei-Bashing” abzuwehren.
  • Die breite Aufstellung von Ermittlungsschwerpunkten, statt rassistischer Verfolgung von “Clan-Kriminalität”