Gegen jeden Antisemitismus – Anfeindungen gegen Jüdinnen und Juden nicht unbeantwortet lassen!

Querdenken, AfD, Nahostkonflikt: Neue Phänomene und alte Hüte – Antisemitismus benennen

Trotz aller „Nie Wieder“-Bekenntnisse nimmt der Antisemitismus und damit die Zahl antisemitischer Straftaten in NRW stark zu. Allein 206 waren es im ersten Halbjahr 2021, im gesamten Jahr davor 276. Deutschlandweit haben sich die antisemitischen Vorfälle seit 2015 fast verdoppelt, von 1366 auf 2351 Fälle im Jahr 2020. Dazu zählen Volksverhetzung, Beleidigungen, Bedrohungen und Körperverletzungen.
Laut den Zahlen der Polizeistatistiken kann der Großteil der antisemitischen Straftaten rechtsextremen Motiven zugeordnet werden. Bei Umfragen unter Jüdinnen und Juden in Deutschland werden vor allem Beleidigungen und körperliche Angriffe als mehrheitlich israelbezogen oder islamistisch motiviert empfunden.

Obwohl in Deutschland nur 0,1 Prozent aller Menschen jüdischen Glaubens sind, richteten sich 2020 70% aller Angriffe auf Religionsgemeinschaften und ihre Vertreter*innen gegen Jüdinnen und Juden – eine schockierende Zahl. Als Jusos muss es daher unser Anspruch sein, Antisemitismus nie unbeantwortet zu lassen – egal ob er von Rechtsextremist*innen und Rechtspopulist*innen kommt, aus linken Milieus, mit islamistischem Hintergrund oder aus der Mitte der Gesellschaft.

„Brunnenvergifter“-Mythen in Pandemiezeiten

In der Covid-Pandemie bekommen antisemitische Verschwörungstheorien neuen Aufwind. Sei es die „New World Order“ mit Giftspritze und Mikrochip von Bill Gates, oder Attila Hildmann, der zehntausenden Follower*innen ganz ohne Codes erzählt, „das Judentum“ sei für die Pandemie verantwortlich. Dazu kommen diverse Gleichsetzungen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit dem Nationalsozialismus, von gelben „Ungeimpft“-Sternen bis zu Jana aus Kassel, die sich fühlt „wie Sophie Scholl“. All das hört und liest man bei Querdenken-Demos
und auf einschlägigen Telegram-Channels, bei der AfD und zuweilen auch abgeschwächt bei Hans-Georg Maaßen.

Antisemitische Chiffren reproduzieren dabei den Mythos einer jüdischen Weltverschwörung, während durch Holocaust-Relativierungen Schritt für Schritt die Verbrechen der Nazis verharmlost und die Opfer der Shoah verhöhnt werden. Besonders besorgniserregend ist dabei die Gleichgültigkeit derer, die nicht direkt dem rechten Rand zugeordnet werden können und sich selbst als Mitte der Gesellschaft bezeichnen oder es bis vor kurzem sogar waren. Zuweilen ist Antisemitismus dabei gar der gemeinsame Nenner von Rechtsextremen, Teilen des linken Spektrums und Esoteriker*innen.
Dass Verschwörungsmythen tödliche Konsequenzen haben können, zeigt der Anschlag von Halle, bei dem der Täter sich im Internet radikalisiert hatte, an eine “jüdische Weltverschwörung” glaubte und gezielt möglichst viele Betende in einer Synagoge ermorden wollte.

„Der Jude unter den Staaten“

Ein Aufflammen des Nahostkonflikts bedeutet leider auch für hier lebende Jüdinnen und Juden eine Gefährdung. Im Mai 2021 gab es in NRW und Deutschland eine Vielzahl von israelfeindlichen und teils islamistischen Demonstrationen, bei denen Vernichtungsparolen und NS-Vergleiche wie „From the river to the sea, palestine will be free“, „Ihr Juden, Mohammeds Heer kommt bald wieder“, „Zionismus = Terrorismus“ oder „Well done Israel, Hitler would be proud“ skandiert wurden oder bei Demo-Aufrufen und auf Schildern zu lesen waren.

Neben offenem Judenhass zeigte sich hier, wie antisemitische Stereotypen und Anfeindungen quasi ersatzweise auf Israel übertragen werden. Dieser israelbezogene Antisemitismus ist oft unscheinbarer, aber nicht weniger
gefährlich, weil er den einzigen jüdischen Staat als Schutzraum für jüdisches Leben bedroht. Er beginnt dann, wenn nicht mehr das Regierungshandeln kritisiert wird, sondern Israel als Ganzes delegitimiert, dämonisiert und mit doppelten Standards behandelt wird.

Von “Delegitimierung” spricht man dabei, wenn Israels Recht auf Existenz durch Kolonialismus- und Apartheidsvergleiche angezweifelt werden soll oder direkt seine Auslöschung als jüdischer Staat gefordert wird. „Dämonisierung“ meint die ideologisch verzerrte Darstellung Israels stellvertretend für jüdisches Leben als “das Böse” überhaupt – beispielsweise durch die Gleichsetzung des Agierens Israels mit den deutschen Verbrechen im
Nationalsozialismus. Und doppelte Standards gegenüber Israel zeigen sich dann, wenn der jüdische Staat anders behandelt und mit anderen Maßstäben gemessen wird als andere Länder. Zum Beispiel, wenn trotz massiver Menschenrechtsverletzungen weltweit Israel im UN-Menschenrechtsrat öfter verurteilt wird als Syrien, Nordkorea, der Iran, China und Venezuela zusammen.

Warum das gefährlich ist, zeigt sich auch bei den Übergriffen auf Synagogen und Jüdinnen und Juden in Deutschland, die absolut nichts mit der Politik des tausende Kilometer entfernten Staates Israel zu tun haben und dennoch dafür verantwortlich gemacht werden.

Mal wieder „von nichts gewusst“ – Der Antisemitismus der Mitte

2022 jährt sich die Wannseekonferenz, bei der die „Endlösung der Judenfrage“ und damit das Ziel der Vernichtung von 11 Millionen Jüdinnen und Juden beschlossen wurde, zum 80. Mal. Dieses beispiellose Verbrechen war nur möglich durch eine Mehrheitsgesellschaft, die jahrzehntelang, wenn nicht sogar jahrhundertelang
Antisemitismus in Deutschland toleriert hat. Während sich die Deutschen heute als „Aufarbeitungs-Weltmeister“ feiern, ist antisemitisches Gedankengut noch immer weit verbreitet.
Studien zeigen, dass jede*r Vierte noch immer Aussagen wie “Juden haben zu viel Macht auf den internationalen Finanzmärkten” zustimmt und jede*r Dritte ganz oder teilweise der Aussage, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland noch immer zu viel Einfluss hätten. 41 Prozent meinen sogar, “Juden sprechen zu oft über den
Holocaust.”.

Umso mehr lehnen wir es ab, wenn rechte Politiker*innen versuchen mit Reden vom “importierten Antisemitismus” davon abzulenken, wie tief antisemitisches Denken noch immer in einem großen Teil der deutschen Bevölkerung verankert ist und Nährboden bietet für Verschwörungsmythen und antisemitische Übergriffe. Wenn die
Hälfte aller Schüler*innen noch nicht weiß, was “Auschwitz” ist, muss klar werden, wie wichtig Gedenken an den Holocaust und die Bildungsarbeit über seine ideologischen Grundlagen sind. Und wie richtig der Kampf gegen rechte Kräfte ist, die mit “Vogelschiss”-Rhetorik versuchen, die Geschichte umzuschreiben und einen unerträglichen “Schlussstrich” unter die Verbrechen der Nazis ziehen wollen.

„Nie wieder“ muss praktisch werden – Antisemitismus entgegentreten

Gegen wirklich jeden Antisemitismus

Wie weit verbreitet Antisemitismus ist und aus welchen verschiedenen Milieus er kommen kann, haben die letzten Jahre wieder einmal gezeigt. Wir wollen uns nicht von dieser Komplexität einschüchtern lassen – im Gegenteil. Als politischer Verband müssen und wollen wir Antisemitismus mit all seinen Facetten erkennen und bekämpfen.

Grundlage jeder Arbeit gegen Antisemitismus muss es daher sein, Judenfeindlichkeit immer und überall auch als solche zu benennen. Wir bekennen uns deshalb zur Antisemitismus-Definition und den Beispielen der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) als Arbeitsgrundlage für unseren Kampf
gegen Antisemitismus. Die Definition der IHRA lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus
richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“. Die Beispiele erläutern und ergänzen die Anwendung der Definition, unter anderem mit Bezug auf israelbezogenen Antisemitismus, Verschwörungsmythen und die Verwendung antisemitischer Stereotypen. [1]

„Kauft nicht bei Juden“? BDS bleibt antisemitische Kackscheiße

Um israelbezogenem Antisemitismus entgegenzutreten, brauchen wir eine klare Linie gegen die Delegitimierung und Dämonisierung Israels und akzeptieren es nicht, wenn an Israel andere Ansprüche angelegt werden als an andere Länder.

Als Jusos verurteilen wir jegliche Übergriffe und Ausschreitungen unter dem Deckmantel der “Israelkritik”, bekräftigen unsere Ablehnung eines Israel-Boykotts und jeglicher Zusammenarbeit mit BDS-unterstützenden Personen und Organisationen. Solidarität mit jüdischem Leben muss immer auch Solidarität mit Israel und seinem Existenzrecht heißen.

Gegen die neuen „besorgten Bürger*innen“ – keine Normalisierung von „Querdenken“

Auch wenn Rassismus und Antisemitismus in ihren Funktionsweisen sehr unterschiedlich sind, so eint sie doch, dass Rechte mit ihrer Hilfe versuchen, komplexe Probleme auf vermeintliche “Sündenböcke” zu projizieren. Den neuen “besorgten Bürger*innen”, die heute gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur demonstrieren, wollen wir Solidarität entgegensetzen mit allen, die gesundheitlich bedroht oder antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt sind.

Wir werden deswegen auch immer dann auf die Straße gehen, wenn antisemitische Verschwörungsmythen und Holocaustrelativierungen wiederkehren. Eine Normalisierung von „Querdenken“ & Co ist für uns keine Option – wir wollen und werden weiterhin aufklären, widersprechen und zu Gegendemonstrationen aufrufen.

Hoffen, dass die Holztür hält?! – Echter Schutz für jüdisches Leben

Wenn am höchsten jüdischen Feiertag nur eine Holztür ein Massaker in einer Synagoge verhindert, hat der Staat versagt – genau so war es beim Anschlag in Halle an Jom Kippur 2019. Eine bildlichere Darstellung dafür, dass Jüdinnen und Juden auch 70 Jahre nach der Gründung der BRD nicht frei von Angst leben können, gibt es kaum.

Jüdinnen und Juden dürfen in Deutschland nie wieder um ihre Sicherheit fürchten müssen. Der Schutz für jüdische Einrichtungen durch Sicherheitsbehörden muss deshalb eine Selbstverständlichkeit sein: Sowohl in Synagogen, aber u.a. auch in jüdischen Bildungseinrichtungen, Restaurants und Friedhöfen und in enger Abstimmung mit den jüdischen Gemeinden.

Zuhören und handeln – Forderungen jüdischer Organisationen ernst nehmen

Entscheidend für den Kampf gegen Antisemitismus ist für uns vor allem die Perspektive der Betroffenen. Jüdische Organisationen fordern schon seit langem zahlreiche Maßnahmen, denen wir uns als Jusos nur anschließen können.

Dazu gehören eine Reform der Polizeistatistik in NRW, um antisemitische Straftaten genauer zuordnen zu können; der Ausbau von Beratungs- und Melde-Angeboten für Betroffene; eine Erhöhung der Sichtbarkeit jüdischen Lebens; Präventions- und Bildungsarbeit an Schulen; ein Verbot der Hamas in Deutschland und eine konsequente Überwachung der AfD und ihr nahestehender Kräfte.

[1] https://www.holocaustremembrance.com/de/resources/working-definitionscharters/arbeitsdefinition-von-antisemitismus