Einheitliche Voraussetzungen und Standards für einen vollumfänglichen Kindesschutz in ganz NRW

In den Jahren 2015 bis 2020 ist die Gesamtanzahl der Kindesschutzverfahren in NRW von 32.015 auf 54.347 Fälle rasant angestiegen. Auch die Zahl akuter Kindeswohlgefährdungen ist in dem gleichen Zeitraum von landesweit 3.938 auf 7.219 Fälle in einem Besorgnis erregenden Maße angewachsen. Dennoch bleiben große Missbrauchsskandale, wie in Lügde und Münster, lange unbemerkt und die Dunkelziffer entsprechender Fälle ist wohl viel höher als die offiziellen Zahlen.

Was es daher braucht, ist ein gut ausgestatteter fundierter Kindesschutz. 2018 erschien die ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) Studie, die zu dem Schluss kam, dass in ganz Deutschland insgesamt rund 16.000 Fachkräfte in den Jugendämtern fehlen. In einer der Großstädte im Ruhrgebiet sind derzeit  knapp 20 unbefristete Vollzeitstellen unbesetzt und das, obwohl einige Anreize, wie die rückwirkende Übernahme der Semesterbeiträge des Studiums oder ein finanzieller Anwerbebonus, geboten werden. Die Erklärung, dass eine Tätigkeit im ASD grundsätzlich zu anstrengend sei, und es deshalb keine ausreichende Zahl qualifizierter Bewerbungen gäbe, greift dabei viel zu kurz. Denn womit haben sich Mitarbeitenden im ASD alltäglich herumzuschlagen?

Eine unzureichende Personalbemessung, die noch dazu keine gesetzliche Grundlagen hat: Viele ASDler*innen liegen weit so oder so über der von der Ver.di geforderten Maximalgrenze von 30 Fällen pro Mitarbeiter*in. Hinzu kommen Krankheits- und Urlaubsvertretungen und Ausfälle durch Kündigung, Elternzeit o.ä. Die Mitarbeitenden im ASD arbeiten regelmäßig über 125% der Auslastung, die eigentlich in ihrer Kommune üblich ist, die grundsätzlich schon weit über den maximal 30 Fällen liegt. Dass der ASD hierdurch nur noch Feuerwehr spielen kann und ein angemessener, präventiver Kindesschutz so kaum noch möglich ist, liegt auf der Hand.

Viele Kommunen reden sich hier raus mit der Aussage, dass ihre Mitarbeitenden im Durchschnitt um die 30 Fälle der Hilfe zur Erziehung (HZE) hätten. Jedoch werden dabei häufig Beratungs-, Kindeswohlgefährdungs- und Gerichtsfälle ausgeblendet, die dazu noch parallel laufen und bei denen (noch) keine Hilfe zur Erziehung installiert ist. So kommt ein*e durchschnittliche*r ASDler*in auf knapp 50 Fälle, die in der persönlichen Verantwortung liegen.

Es ist, gerade in Zeiten von allgemeinem Fachkräftemangel, sicherlich noch einmal schwerer, offene Stellen in solch anspruchsvollen Tätigkeiten in den Jugendämtern zu besetzten.

Es ist daher von Nöten, die Arbeitsbedingungen gerade im ASD massiv zu verbessern. Es kann nicht sein, dass viele Jugendamtsmitarbeitende immernoch mit einem Nokia 3310 ausgestattet sind und erforderliche Fotos von Wohnungen mit ihren Privathandys schießen müssen. Es kann nicht sein, dass es keine institutionalisierte psychologische Betreuung der Mitarbeitenden nach einer belastenden Kindeswohlgefährdung gibt und dass die volle und alleinige Fallverantwortung, und damit im Zweifel ein Kindesleben, bei den einzelnen Mitarbeitenden liegt. Und es kann nicht sein, dass die Bezahlung im ASD um Längen schlechter ist als für Tätigkeiten mit gleichrangigem Studienabschluss. Eine Tätigkeit im ASD ist in jedweder Form für die Mitarbeitenden hochgradig belastend, hochgradig emotional, hochgradig fachlich und hochgradig verantwortungsvoll!

Das gesamte Dokumentations- und Berichtswesen im Jugendamt muss überarbeitet werden. Im Durchschnitt verbringt ein*e Mitarbeiter*in ca. 60% der Arbeitszeit mit Dokumentation und Berichtswesen. Manche, finanzstärkere Kommunen stellen hierfür separate Bürokräfte ein, um handschriftliche Vermerke abzutippen, Unmengen an Gerichtspost abzuheften und einzuscannen etc. Die aktuelle Digitalisierung der Papierakten wird landesweit mehr als Belastung denn als Entlastung der Mitarbeiter*innen wahrgenommen, weil derzeit noch zwei Akten geführt werden müssen.

Jedes Jugendamt hat seine eigenen fachlichen Standards und seine eigenen Prozesse und Bögen zur Dokumentation und Abarbeitung von Kindeswohlgefährdungen. Hier kommt es bei Übergaben zwischen den Jugendämtern häufig zu, teils kindeswohlgefährdenden, Wissensverlusten.

Gerade vor dem Hintergrund der steigenden Unterhaltungs- und Benzinkosten für das eigene PKW ist die verpflichtende Bereitschaft das eigene Auto im Dienst zu nutzen nicht mehr zeitgemäß. Viele Jugendämter besitzen keine Dienstwagen, oder nur einen Dienstwagen für die gesamte Stadtverwaltung. Bei einer Pauschale von 0,30 € pro Kilometer sind bei weitem nicht alle privaten Kosten gedeckt. Da Kinder und Jugendliche nur selten in der Nähe der Heimatkommunen untergebracht werden können, etwa aufgrund von mangelnden Wohngruppenplätzen oder Kapazitäten in Pflegefamilien, sind Fahrtstrecken von 50 Kilometern und mehr keine Seltenheit.

Oftmals sitzen Mitarbeiter*innen im ASD mit der Sachgebietsleitung gemeinsam am Tisch und beraten über die notwendige(n) und geeignete(n) Jugendhilfemaßnahme(n). Hier gehen, je nach fachlicher Eignung, Betreuungsschlüssel etc., die Kostensätze massiv auseinander. Zum Beispiel kostet eine Pflegefamilie die Kommune pro Kind knapp 100€ am Tag. Eine Regelwohngruppe (Betreuungsschlüssel von 1:2) kostet die Kommune hingegen bereits knapp 180€ am Tag. Eine Intensivwohngruppe mit einem Betreuungsschlüssel von mindestens 1:1 hingegen mindestens knapp 300€ am Tag, nach oben hin offen.

Häufig fällt in den fachlichen Gesprächen die Argumentation, dass die Kommune, in der man arbeitet, eine sei, die zu wenige Haushaltsmittel zur Verfügung hat und dass man daher auf die Kosten einer Jugendhilfemaßnahme achten müsse. So kann es vorkommen, dass eine geeignete Kinder- und Jugendhilfemaßnahme gefunden wurde, diese aber durch die Leitung nicht bewilligt wird, da die Kommune nicht über ausreichende finanzielle Mittel hierfür verfügt. Die HZE-Zahlen belasten die Städte und Gemeinden in NRW jährlich mit mehreren Millionen Euro. Allein die Ruhrgebietsstadt Marl, mit gerade mal 87.000 Einwohner*innen, wendet im Jahr mehr als 12 Mio. € für Hilfen zur Erziehung auf.

Nicht selten sind im Jugendamt mehrere Mitarbeitende in einem Büro untergebracht. Nicht selten steht in den Büros ein Tisch in einer Ecke an dem Gespräche geführt werden sollen. Nicht selten sind diese Gespräche hoch emotional und lebensändernd für die betroffenen Familien. Das diese Gespräche in Büros geführt werden müssen, in denen die weiteren Kolleg*innen zeitgleich telefonieren, tippen und normal weiter arbeiten (müssen) ist für die jeweiligen Familien wie für die betreuenden Mitarbeitenden eine Zumutung und für viele sicher eine noch größere Hürde sich hilfesuchend an das Jugendamt zu wenden.

Beim ASD in den Jugendämtern gibt es viele Baustellen, die bearbeitet werden, und Stellschrauben, an denen gedreht werden muss. Daher fordern wir:

  • Eine einheitliche Definierung des Begriffs „Fall“. Jeder bearbeitete Fall (Kindeswohlgefährdung, Gericht, Beratung und HzE) muss auch als solcher angesehen werden, nicht nur die HzE-Fälle! 
  • Eine einheitliche Fallobergrenze für die ASDler*innen bei höchstens 30 Fällen pro Mitarbeiter*in! 
  • Eine Personalbemessung, die sich an den Bedarfen in den Sozialräumen der jeweiligen Kommune orientiert. Hier gilt die Aussage: „Ungleiches ungleich behandeln“! 
  • Eine Ausbildungsoffensive für den Bereich der sozialen Arbeit und vor allem hier im Bereich des ASDs! 
  • Die Digitalisierung der Jugendämter, und zwar jetzt! Die Zeiten von Nokia 3310 und Faxgerät müssen der Vergangenheit angehören! Auch die aktuell doppelte Aktenführung muss endlich abgeschafft werden!
  • Den Anspruch auf kostenfreie psychologische Beratung und Betreuung, nach bzw. während der Arbeit an hoch belastenden Fällen!
  • Eine Eingruppierung von ASDler*innen mindestens in der Entgeltgruppe S17!
  • Eine Überarbeitung des Berichts- und Dokumentationswesens und die verpflichtende Beschäftigung von Bürokräften in den Bereichen des ASDs!
  • Eine einheitliche Prozessleitlinie und einheitliche Abarbeitungs- sowie Dokumentationsbögen betreffend Kindesschutz, über die Landesjugendämter von LWL und LVR!
  • Eine Erhöhung der Fahrtkostenpauschale auf 0,50€ pro Kilometer und eine Verpflichtung der Kommunen, dem ASD eine ausreichende Anzahl an Dienstwagen zur Verfügung zu stellen!
  • Eine flächendeckende Beteiligung des Landes und des Bundes an den Kosten der HZE. Eine Gewährung oder Nicht-Gewährung von Unterstützungsmaßnahmen aufgrund der finanziellen Situation einer Kommune darf nicht mehr notwendig sein!
  • Eine vernünftige Ausstattung des ASD mit Besprechungsräumen und Büros, die nicht parallel von zwei oder mehr Mitarbeitenden genutzt und belegt werden!
  • Unabhängige Erstmeldestellen, die als Ergänzung zu den unersetzbaren Schulsozialarbeiter*innen, Kindern erleichtern soll Hilfe zu erhalten und etwa den Kontakt zu den ASDs herstellt. Diese Erstmeldestellen sollten dezentral und etwa in der nähe von Schulen gelegen sein, um für Kinder die beste Voraussetzung zu schaffen, auf sich selbst Aufmerksam zu machen.