Kritische Reflexion des Freiwilligen Sozialen Jahres: Nachhaltige Hilfe statt Voluntourismus

„Wir brauchen neue Modelle, in denen wir Jung und Alt miteinander ins Gespräch bringen und die Überzeugung einüben, dass wir auch für andere da sein müssen“ (Frank-Walter Steinmeier in Zeitonline: 2022)

Der Freiwilligendienst kann für viele junge Menschen eine Chance sein, sich kennenzulernen und auszuprobieren. Doch das FSJ in seiner heutigen Form bietet eine kapitalistische Früherziehung, statt Menschen die Möglichkeit zu geben, füreinander da zu sein. Zu jedem Zeitpunkt wird den Freiwilligen am eigenen Leib gezeigt, wie Ausbeutung funktioniert. Als jungsozialistischer Verband fordern wir Respekt für den Freiwilligendendienst. Wir wollen, dass Freiwilligendienste attraktiv gestaltet sind und jungen Menschen Perspektiven und Anerkennung bieten. Freiwilligendienstler*innen dürfen nicht als billige Arbeitskräfte ausgenutzt werden. Erhält der Freiwilligendienst die nötigen Reformen und den Respekt, den er verdient, davon sind wir überzeugt, werden sich mehr junge Menschen für einen Freiwilligendienst begeistern. Die Einführung eines verpflichtenden Freiwilligendienstes ist ein Schlag ins Gesicht der jungen Menschen und wird von uns konsequent abgelehnt. Für die bessere Lesbarkeit sind im Folgenden die unterschiedlichen Dienste wie der Bundesfreiwilligendienst, das Freiwillige Ökologische Jahr oder das Freiwillige Soziale Jahr unter der Abkürzung FSJ zusammengefasst. Wir betrachten das Thema FSJ im In- und Ausland zunehmend mit großer Besorgnis. Wir sind der Überzeugung, dass es von entscheidender Bedeutung ist, einen kritischen Blick auf diese Praxis zu werfen und nachhaltige Hilfe zu fördern.

Das FSJ bietet jungen Menschen die Möglichkeit, sich nach dem Schulabschluss, dem Universitätsstudium oder der Berufsausbildung sinnvoll zu engagieren und anderen Menschen in Not zu helfen. Dabei kann es durch ein Durchbrechen der alltäglichen Bubbles neben der Persönlichkeitsentwicklung und Lebenswegfindung zum Instrument des gesteigerten Verständnisses und Zusammenhalt in der Gesellschaft werden. Wir erkennen den Wert und die Bedeutung des FSJ an, jedoch müssen wir auch die Schattenseiten benennen.

„Volontouristen“: Keine Freund*innen und Helfer*innen

Wir sind zutiefst besorgt über die Praxis des “Voluntourismus”, bei dem Freiwillige kurzzeitig in Entwicklungsländern aktiv sind, touristische Aktivitäten, wie das Erkunden von Sehenswürdigkeiten, aber im Vordergrund stehen. Diese Form des Freiwilligendienstes hat wenig mit nachhaltiger Entwicklung oder sinnvoller Hilfe zu tun. Es ist wichtig, dass wir uns nicht nur im globalen Süden, sondern auch vor unserer eigenen Haustür bewusst werden, dass solche „Voluntourismus“-Aktivitäten oft mehr Schaden als Nutzen anrichten. Die unzureichende Vorbereitung der Freiwilligen und die mangelnde Berücksichtigung lokaler Bedürfnisse und Kompetenzen können zu Abhängigkeiten und Frustration führen. Darüber hinaus können kulturelle Missverständnisse, internalisierter Rassismus und eine fehlende Sensibilität gegenüber den örtlichen Gegebenheiten zu negativen Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinschaften führen.

Unser oberstes Ziel ist es, den Fokus auf nachhaltige Hilfe und langfristige Entwicklung zu lenken. Freiwilligendienste sollten auf einer echten Partnerschaft mit den lokalen Gemeinschaften basieren, bei der ein Austausch von Wissen, Fähigkeiten und Ressourcen stattfindet. Sie müssen interkulturelle Kompetenzen entwickeln und sich der Herausforderungen vor Ort bewusst sein.

Es ist wichtig, dass Freiwillige eine ausreichende Zeit vor Ort verbringen, um eine tiefere Verbindung zu den Menschen und der Kultur aufzubauen und nachhaltige Projekte zu entwickeln.

Neben der Vorbereitung ist auch die Finanzierung solcher Freiwilligendienste im Ausland ein wichtiger Aspekt, der kritisch betrachtet werden muss. Ein staatlich gefördertes FSJ im Ausland wird durch Zuschüsse vom Bund und durch Gelder der Entsendeorganisation teilfinanziert. Die Einsatzstelle vor Ort übernimmt in den meisten Fällen die Kosten für Verpflegung und Unterkunft. Dennoch fordern einige Entsendeorganisationen von den Teilnehmenden den Aufbau eines Spender*innenkreises. Diese Form der Finanzierung bedarf ebenfalls einer Diskussion über Alternativen, um sicherzustellen, dass der Fokus nicht auf kommerziellen Interessen liegt.

Wir appellieren an alle Akteure, einschließlich staatlicher Stellen, Entsendeorganisationen und Freiwilligen selbst, die Problematik des „Voluntourismus“ anzuerkennen und sich für einen sinnvollen und nachhaltigen Einsatz im Rahmen des FSJ einzusetzen. Es ist von großer Bedeutung, dass junge Menschen ihre Energie und ihr Engagement auf eine Weise einbringen können, die tatsächlich dazu beiträgt, soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen und nachhaltige Entwicklung zu fördern.

Zusätzlich ist es von Bedeutung, die Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen und Gemeinschaften zu stärken. Freiwilligendienste sollten auf einer partnerschaftlichen Ebene stattfinden, bei der die Bedürfnisse und Visionen der lokalen Gemeinschaften respektiert und unterstützt werden. Dies erfordert einen offenen und respektvollen Dialog sowie die Anerkennung der lokalen Expertise und Ressourcen.

Nur durch eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen Fragen können wir sicherstellen, dass die Idee des Freiwilligendienstes gewahrt bleibt und wir tatsächlich positive Veränderungen bewirken. Es ist an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen und uns für einen ethisch verantwortungsbewussten Freiwilligendienst einzusetzen. Durch eine reflektierte Herangehensweise können wir einen echten Beitrag zur globalen Solidarität und Gerechtigkeit leisten.

Freiwillige: Ausgebeutet qua Perfektion

Im Bereich der Pflege, der Krankenbeförderung und ähnlichen Sektoren greift die allgemeine Überlastung auf Freiwillige über und sie werden zu Lückenfüller*innen. Dies geschieht ungeachtet einer geeigneten Anlernung und mentalen Vorbereitung, wie für den Umgang mit dem Tod anderer Menschen. Ohne den Beitrag der Freiwilligen, würden systemrelevante Bereiche nicht funktionieren, dafür wird ihre Arbeitskraft noch stärker ausgebeutet als die der regulär Beschäftigten. Neben der Belastung für die Freiwilligen selbst untermauern die alltäglichen Praktiken die mangelnde Wertschätzung, was die betroffenen Branchen zu unattraktiveren potentiellen Arbeitgeber*innen macht. Um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken, gibt es nicht das eine Wundermittel. Ein Freiwilligendienst kann als Teil von vielen Maßnahmen Orientierung für junge Menschen bieten und sollte nicht durch abschreckende Bedingungen dem ohnehin betroffenen Sozialen oder Gesundheitssektor weiter schaden.

Im Inland ist es in den meisten Städten unmöglich, Miete und Lebensmittel mit dem sogenannten „Taschengeld“ zu bezahlen. Es ist ein unerträglicher Zustand, dass für 40 Stunden Arbeit und mehr pro Woche noch draufgezahlt werden muss, um zu überleben. Es geht nicht um Wohlstandsaufbau oder luxuriöse Lebensstile, sondern um die Vermeidung von Armut im jungen Alter. Dies ist eine Frage von Respekt und Anstand, die die Sozialdemokratie nicht unbeantwortet lassen darf. Außerdem ist Mobilität eine Grundlage für die Teilhabe am Sozialleben, aber auch nötig für den Verkehr zur/von der Arbeitsstelle. Der bisherige Anspruch auf ein Azubi-Ticket ist mit dem Deutschlandticket nicht mehr zeitgemäß, es braucht eine Anpassung. Damit fördern wir nebenbei frühzeitig den ÖPNV und die grüne Mobilitätswende.

Was jetzt passieren muss:

Ein zentraler Aspekt für ein antiklassistisches FSJ ist die Übernahme der Wohnkosten. Wir fordern, dass die Wohnkosten der Freiwilligen von den Trägerorganisationen übernommen werden. Um eine gerechte Abdeckung sicherzustellen, sollte je nach Mietstufe ein fester Betrag pro Quadratmeter gezahlt werden. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass die Freiwilligen angemessenen Wohnraum finden können. Des Weiteren plädieren wir dafür, einen jährlich an die Inflation angepassten einheitlichen Lebensmittelsatz einzuführen. Durch die Anpassung wird sichergestellt, dass die finanziellen Mittel den steigenden Lebenshaltungskosten gerecht werden. Eine weitere wichtige Forderung betrifft die psychische Vor- und Nachbereitung der Freiwilligen. Es ist von großer Bedeutung, angemessene Unterstützung und Ressourcen bereitzustellen, um die psychische Gesundheit der Teilnehmenden während ihres FSJ-Einsatzes zu bewahren. Vor dem Einsatz sollten die Freiwilligen auf mögliche Herausforderungen vorbereitet werden, während eine Nachbereitung ihnen hilft, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und mögliche emotionale Belastungen zu bewältigen. Um sicherzustellen, dass die Freiwilligen angemessen auf ihre Aufgaben vorbereitet werden, fordern wir eine Anlernung nach branchenbezogenen Mindeststandards. Zusätzlich fordern wir, unabhängige Ansprechpartner*innen über das Unternehmen hinaus zur Verfügung zu stellen. Dies gewährleistet, dass die Freiwilligen bei Problemen, Konflikten oder Missständen eine neutrale und unabhängige Unterstützung erhalten. Schließlich fordern wir ein kostenfreies Deutschlandticket für die Freiwilligen. Durch ein solches Ticket erhalten die Freiwilligen die Möglichkeit, zwischen der Arbeitsstelle und Einsatzstelle kostenfrei zu pendeln und das Land zu erkunden. Die Umsetzung dieser Forderungen trägt dazu bei, die Rahmenbedingungen und Unterstützung für die Freiwilligen im FSJ zu verbessern. Auch wollen wir das FSJ nach der 10. Klasse ermöglichen, damit FSJler*innen danach entscheiden können, ob sie wieder in die Schule möchten oder etwa schon eine Ausbildung beginnen. Für ein FSJ, das im Ausland stattfindet, müssen die Regelungen für Minderjährige bedacht werden.

Gerade in Arbeiter*innenregionen und Schul- und Bildungsstandorten, die von strukturschwachen Quartieren gekennzeichnet sind, beobachten wir, dass es auch hier – vergleichsweise – ein Ungleichgewicht in der Berufsorientierung gibt. Vor allem Arbeiter*innenkinder und Kinder- und Jugendliche mit Migrationsgeschichte erfahren durch dieses Ungleichgewicht wieder einen strukturellen Ausschluss von Berufsorientierungsprozessen, die aber essenziell für die berufliche Weiterentwicklung sind. Das Ungleichgewicht führt auch zur einer Unterrepräsentation im FSJ. Eine moderne und flächendeckend starke Berufsorientierung stärkt in diesem Falle marginalisierte Jugendliche und wirkt der Unterrepräsentation entgegen. Aktuell bleibt für ein „gap year“ nach der Schule und vor Ausbildung oder Studium vor allem die Bundeswehr als präsente Alternative. Dies halten wir für falsch, unsere Jugend soll mehr als das Militär als beworbene Auswahlmöglichkeit präsentiert bekommen. Deren Zugang zu Schulen und Gaming-Messen oder der obligatorische Brief zur Volljährigkeit männlicher Jugendlichen darf von Einsatzmöglichleiten im sozialen, ökologischen oder kulturellen Sektor nicht unbeantwortet bleiben. Deshalb sollten diese für ihre Öffentlichkeitsarbeit gefördert werden.

Um ein „richtiges“ soziales Jahr mit nachhaltiger Wirkung zu gewährleisten, könnten langfristige Patenschaften sicherstellen, dass die Auslandseinsätze nicht nur als ,,Voluntourismus’’ wahrgenommen werden sondern auch nach dem Einsatz die Verbindung zur Einsatzstelle anhält. Die Verlängerung des Kindergeldanspruchs um mindestens zwei Jahre ist eine weitere wichtige Forderung. Das Kindergeld bietet zum einen vielen Menschen – ob in der Ausbildung oder im Studium – eine finanzielle Stütze. Zum anderen könnte die Verlängerung einen Anreiz für gesellschaftliches Engagement darstellen.

Aktuell engagieren sich nur halb so viele Männer wie Frauen in einem Freiwilligendienst. Um dies auszugleichen, sollte eine gezielte Sensibilisierung männlicher Bewerber erfolgen, um eine ausgewogene Geschlechterverteilung im FSJ zu erreichen.

Durch die Umsetzung dieser Forderungen kann das FSJ gerechter und nachhaltiger gestaltet werden, wodurch eine Integration der Freiwilligen in die Gesellschaft gefördert wird.

Das FSJ soll nicht nur die Freiwilligen, sondern auch den Zusammenhalt in der Gesellschaft und damit die Demokratie fördern. Dies ist aktuell nicht gegeben und wird auch nicht durch eine Verpflichtung erreicht. Es braucht respektvolle Konditionen!