Mental Health Matters

Die Situation von Menschen, die psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nehmen, in Anspruch nehmen müssen oder in Anspruch nehmen wollen ist auch oder gerade in den letzten Jahren problematisch. Einerseits aufgrund dessen, dass psychische Leiden in unserer Gesellschaft immer noch stigmatisiert werden und gesellschaftliche, teilweise sogar gesetzliche Nachteile mit sich bringen. Andererseits weil die Versorgungslage dieser Menschen absolut unzureichend ist. Wer in NRW psychotherapeutische Versorgung benötigt, muss nach dem Erstgespräch durchschnittlich 23 Wochen auf einen Therapieplatz warten – fast ein halbes Jahr. Damit liegt der Westen sogar noch über dem Bundesschnitt von fünf Monaten.

Hierbei ist auch zu bedenken, dass es den Betroffenen häufig schwer fällt sich Hilfe zu suchen. Eine geringe Anzahl von Terminen, eine schwierige Suche nach einem längerfristigen Unterstützungsangebot und komplizierte Verfahren um diese wahrzunehmen können entmutigend und abschreckend wirken und diejenigen die Unterstützung suchen davon abhalten diese in Anspruch zu nehmen oder zu erhalten.

Besonders in Situationen in denen jeder Monat und jede Woche zählt ist dieser Zustand verheerend.

Gerade seit Beginn der Corona-Pandemie, welche mit Social Distancing und anderen Stressfaktoren sowie einem erschwerten Zugang zu Stressventilen einhergeht wird die Infrastruktur im Bereich psychischer Gesundheit verstärkt belastet. Als Folge der Corona- Pandemie stieg 2021 die Nachfrage nach Terminen für Erstgespräche bei Psychotherapeut:innen um durchschnittlich 40% im Vergleich zu 2020. Dies ergab eine Blitzumfrage der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV). Hiervon erhielt nur jede:r Vierte auch einen Termin.

Nicht nur Erwachsene sondern auch Kinder und Jugendliche brauchen oder möchten psychotherapeutische Unterstützung. Unsere Generation hat mit mehreren Krisen gleichzeitig zu kämpfen. Von der Klimakrise, über den Ukrainekrieg, die andauernde Corona-Pandemie, bis hin zu Perspektivlosigkeit durch Wirtschaftskrisen, (Jugend)arbeitslosigkeit oder Wohnungslosigkeit sowie die Auswirkungen von neuen Medien auf die psychische Gesundheit.

Nach Zahlen des DAK-Kinder- und Jugendreports stieg im Jahr 2021 die Zahl der an Depressionen erkrankten Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr um 28% an. Bei Essstörungen waren es 17% und bei emotionalen Störungen ganze 42% mehr als noch 2020. Hierbei sind Mädchen deutlich häufiger betroffen als Jungen.

Mehr Kassensitze 

Von einem Kassensitz ist die Rede, wenn Ärzt:innen und Therapeut:innen ihre Behandlungen durch die gesetzlichen Krankenkassen bezahlen lassen können. Die Kosten tragen also die gesetzlichen Krankenkassen und nicht die Patient:innen. 1999 trat das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) in Kraft, welches neben der Ausübung der Psychotherapien durch ausgebildete Psychotherapeut:innen auch einmalig die Verteilung von kostenfreien Kassensitzen an damals aktive Psychotherapeut:innen regelte sowie die Grenze, wie viele Kassensitze es in einer Region (die meist die Landesgrenzen überlappen) geben darf und ab wann eine „Vollversorgung“ gilt, also alle Kassensitze in einer Region vergeben. Damals wie heute richtet sich diese Grenze nicht an der Zahl der tatsächlich Erkrankten oder Gefährdeten, sondern an der Gesamteinwohner:innenzahl, was dazu führte, dass bundesweit statistisch in fast jeder Region Vollversorgung herrscht. Wollen sich neue und frisch ausgebildete Psychotherapeut:innen ansiedeln, wo bereits alle Kassensitze belegt sind, müssen sie diese meist für Preise von bis zu 80.000 Euro von in Pension gehenden Therapeut:innen abkaufen. Auch wenn diese sie zuvor 1999 umsonst bekommen haben. Das wird damit begründet, dass ein Kassensitz quasi dauerhaft verfügbare Patient:innen garantiert.

Zwar hat sich die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, die Kapazitäten auszubauen und Wartezeiten zu verkürzen, ihre Kompetenzen liegen jedoch vor allem darin, die Rahmenbedingungen des System zu gestalten. Das Gremium, welches die Kompetenz besitzt mehr Kassensitze zu beschaffen ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), welcher aus Vertreter:innen der Krankenkassen, der Ärzte und Therapeut:innen, sowie drei unparteiischen Vertreter:innen besteht, wovon eine:r als Vorsitzende:er fungiert. Vorsitzender ist seit 2012 Josef Hecken, welcher auch der saarländischen CDU angehört. Zwar gehören auch Patient:innenvertreter:innen dem G-BA an, diese haben jedoch kein Stimmrecht sondern lediglich Rederecht. Unserem jungsozialistischen Verständnis von Demokratie und Mitbestimmung in allen Bereichen der Gesellschaft steht dieser Umstand diametral gegenüber.

Aufgabe des G-BA ist es, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen zusammenzustellen und dabei nicht nur auf die wissenschaftliche Wirksamkeit der Behandlungsmethoden zu achten, sondern auch auf die Wirtschaftlichkeit eben dieser. Er bestimmt also, was von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird und was nicht. Die Richtlinien und Erlasse die es verabschiedet sind bindend. Damit verfügt er über die Behandlungsmöglichkeiten von allen gesetzlich versicherten Menschen in Deutschland und bestimmte 2021 über die Verwendung und Verteilung von über 270 Milliarden Euro.

Laut einer Empfehlung der Bundespsychotherapeutenkammer aus 2018, bräuchte es bundesweit rund 7000 zusätzliche Kassensitze, um den Bedarf in Stadt und Land zu decken und die Kapazitäten auf dem Land denen in der Stadt anzugleichen. In der Realität hat der G-BA das dann durch die Schaffung 776 neuer Kassensitze umgesetzt. Es scheint also so, als ob der G-BA über genug Geld verfügt um mehr Kassensitze zu schaffen, das aber schlichtweg nicht tut.

In der Kritik steht der Ausschuss unter anderem auch dafür, dass er in Anbetracht seines Einflusses auf die Gesundheitsversorgung von über 73 Millionen gesetzlich versicherten Menschen in Deutschland nahezu keinerlei Kontrollinstanz untersteht. Das Bundesgesundheitsministerium kontrolliert die Erlasse des G-BA lediglich auf ihre Rechtmäßigkeit. Auf den Inhalt wird dabei nicht geachtet.

Auch die Frage nach der demokratischen Legitimation des G-BA steht seit Jahren im Raum. Diese Frage erreichte auch das Bundesverfassungsgericht, beispielsweise November 2015, als es in einem Beschluss gewisse Zweifel an der demokratischen Legitimation des G-BA einräumte.

Ein Gremium, welches über solch eine Entscheidungsgewalt verfügt wie der G-BA, muss in einer parlamentarischen Demokratie wie Deutschland auch einer gewissen Verantwortung vor den gewählten Volksvertreter:innen unterliegen. Ebenso müssen die Patient:innen, die von dessen Entscheidungen direkt betroffen sind, mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten erhalten. Daher fordern wir:

  • Neue Zusammensetzung des G-BAs, wodurch Patient:innenvertreter:innen mehr sowie feste Plätze samt Stimmrecht erhalten, sodass zwischen Patient:innenvertreter:innen und bereits vorhandenen Blöcken eine Stimmgleichheit entsteht.
  • Neue Berechnung der vorgegebenen Anzahl an Kassensitzen pro Region auf Basis der tatsächlich psychisch Erkrankten sowie mit Hinblick auf wirtschaftliche Situation, gesellschaftliche Zusammensetzung und Lebensqualität der Regionen

Barriereärmere Möglichkeit für Terminbuchungen 

Im Falle einer psychischen Erkrankung wie etwa einer Depression sind Erkrankte häufig leichter zu demotivieren und haben Schwierigkeiten sich zu motivieren. Alleine schon die Energie für Anrufe aufzubringen stellt für viele einen Kraftakt dar. Sei es beim ärztlichen Bereitschaftsdienst oder direkt bei Praxen, was eigentlich nur eine Minute dauert, kann einen bereits an seine Grenzen bringen. Außerdem ist es dann alles andere als förderlich wenn man sich in solch einer Situation von Praxis zu Praxis durchtelefonieren muss um dann eine Absage nach der anderen zu erhalten. Gefühle von Hilflosigkeit werden da nur verstärkt und statt Heilung bringt der Versuch, sich Hilfe zu holen, nur noch mehr Probleme und verschlimmern die Symptomatik noch mehr.

Man sollte meinen, dass es im Jahr 2022 möglich sein sollte, zumindest für die Erstgespräche, online nach Therapeut:innen in der Nähe und freien Terminen zu suchen. Doch dem ist nicht so. Im Jahr 2022 und nach zwei Jahren Pandemie muss sowas aber möglich sein. Auch, um den Zugang zu Erstgesprächen und Therapien barriereärmer zu gestalten.

Es darf nicht sein, dass der Versuch, sich Hilfe zu suchen, welcher bereits Stärke abverlangt und eine große Kraftanstrengung ist, einen nur noch mehr runterzieht. Daher fordern wir, dass es zukünftig auch Möglichkeiten gibt, das Erstgespräch und die probatorischen Sitzungen, die von den Krankenkassen bezahlt werden, online zu vereinbaren.

Jugendliche und Psychotherapie 

Gesetzlich versicherte Jugendliche dürfen ab 15 Jahren ohne die Zustimmung der Eltern zur Therapie gehen. Wenn die Jugendlichen unter 15 sind, benötigen sie die Zustimmung beider Elternteile, da diese das gemeinsame Sorgerecht haben. In Fällen, in denen die Eltern getrennt sind und sich das Sorgerecht teilen, ist auch die Zustimmung beider Elternteile nötig, um dem Kind die Therapie zu ermöglichen. Sollte ein Elternteil nicht zustimmen, entscheidet das Familiengericht darüber, ob das Kind eine:n Therapeut:in aufsuchen darf.

Anders sieht es bei privat versicherten Jugendlichen aus. Diese haben nicht die Möglichkeit sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen, ohne, dass die Eltern davon erfahren, da der Antrag auf Übernahme der Therapiekosten über die Hauptversicherten läuft. Hierin sehen wir einen weiteren Grund für die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin.

Es sollte für Jugendliche möglich sein zur Therapie zu gehen und das ohne die Zustimmung der Eltern. Dabei ist vor allem zu bedenken, dass psychische Probleme in der Gesellschaft stigmatisiert sind und daher Eltern eventuell eine Therapie nicht erlauben, obwohl das Kind diese benötigen würde. Daher erachten wir es als wichtig, dass kurzfristig Regelungen getroffen werden, damit die Eltern von privat versicherten über 15-jährigen nicht über Therapiebesuche informiert werden müssen.

Mehr Psycholog:innen an Schulen 

Das auf Leistung ausgelegte Schulsystem erzeugt enormen Druck auf Schüler:innen, welche sowieso oft mit Mobbing, schwierigen Familienverhältnissen und anderen Problemen zu kämpfen haben. Kinder und Jugendliche verschließen sich dabei häufig und finden an den Schulen wenige bis keine Möglichkeiten, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Während der Lehrkräftemangel dazu beiträgt, dass den Lehrer:innen immer mehr die Zeit fehlt sich einzeln mit den Kindern auseinanderzusetzen, gibt es an Schulen auch einen Mangel an psychologischen Anlaufstellen. Im Jahr 2019 kam auf rund 7000 Schüler:innen ein:e Schulpsycholog:in. Diese Zahl ist erschreckend, wenn man bedenkt unter welcher psychischen Belastung Schüler:innen oftmals stehen. Für uns ist klar, dass das Angebot an Schulpsycholog:innen erweitert werden muss. Wir fordern daher, dass auf ein:e Schulpsycholog:in rund 700 Schüler:innen kommen sollten, ähnlich wie zum Beispiel in Dänemark und der Schweiz. Im Idealfall sollte an jeder Schule ein*e Schulpsycholog*in angestellt sein, damit alle Schüler*innen unabhängig von Schulform, Schulort oder Schulgröße die Möglichkeit haben, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.