Kein „Weiter so“ – Für eine konsequente Erneuerung der NRWSPD

Die NRWSPD hat bei der vergangenen Landtagswahl ihr historisch schlechtestes Ergebnis eingefahren. Nachdem es lange nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aussah und die Rückeroberung der Staatskanzlei zum Greifen nahe schien, landeten wir am Ende 9 Prozentpunkte hinter der CDU. In absoluten Zahlen haben wir im Vergleich zur Landtagswahl 2017 über 500.000 Wähler*innen verloren, davon allein 300.000 an das Lager der Nichtwähler*innen. Angesichts dieses katastrophalen Abschneidens verbietet es sich, zur Tagesordnung überzugehen. Auch wird es nicht reichen, die üblichen Rituale nach Wahlniederlagen zu pflegen. Was es jetzt braucht, ist eine wirkliche Aufarbeitung dieses Wahlergebnisses und die ehrliche Bereitschaft aller für diesen Prozess. Was es jetzt braucht, sind konkrete Handlungsempfehlungen. Was es jetzt braucht, ist eine inhaltliche, strukturelle und personelle Erneuerung der NRWSPD.

Gründe für das Wahldebakel

Am Anfang jeder Analyse muss die Frage stehen, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte. Aus unserer Sicht lassen sich drei Gründe bereits jetzt identifizieren.

Erstens: Wir haben als NRWSPD an den Sorgen der Menschen vorbei kommuniziert. Die Idee, bei der Wahlkampagne nicht auf klare Zielgruppen, sondern auf die laut Umfragen drängendsten Themen zu setzen, hat sich als falsch erwiesen. Die Themen, die während der Kampagnenplanung relevant waren, waren andere als während des Wahlkampfes. In den Wochen vor der Wahl haben sich die Menschen in NRW weniger Sorgen um die Krankenhausplanung gemacht und mehr Sorgen um die sich ankündigende Inflation. Darauf haben wir nicht mehr adäquat reagiert. Zusätzlich war es ein strategischer Fehlschluss, sich eng an die Bundesebene zu binden und auf einen Kanzler-Effekt zu setzen, der mindestens ausgeblieben ist.

Zweitens: Damit zusammenhängend ist es uns nicht gelungen, deutlich zu machen, dass es einen Unterschied macht, ob Sozialdemokrat*innen regieren oder nicht. Die notwendige Polarisierung hat gefehlt. Exemplarisch sei hier an das TV-Duell erinnert, nach dem man den Eindruck haben konnte, dass bei SPD und CDU eigentlich das Gleiche in den Wahlprogrammen stehe. Auch Äußerungen, mit der NRWSPD gebe es in der Innenpolitik keinen Wechsel, sondern ein ‚Weiter so‘ nach Reuls Vorbild, trugen zu diesem Bild bei. Wechselstimmung erzeugt man so nicht. Und 300.000 Menschen, die zu Nichtwähler*innen geworden sind, sprechen da eine eindeutige Sprache. Im besten Falle haben sie nicht die Notwendigkeit eines Regierungswechsels gesehen. Im schlechtesten Falle fehlte ihnen schlicht der Glaube daran, dass die SPD ihr Leben konkret verbessern würde. So oder so ist damit eine große Baustelle identifiziert, die wir als NRWSPD angehen müssen.

Drittens: Wer andere überzeugen will, muss selbst überzeugt sein und dazu in der Lage, eine Kampagne in die Breite des Landes zu tragen. Leider sind wir als NRWSPD in der Breite jedoch nicht mehr kampagnenfähig. Und das nicht erst seit diesem Wahlkampf. Das betrifft auf der einen Seite die Strukturen vor Ort in den Unterbezirken und Kreisverbänden, wo auch aufgrund der Pandemie Kompetenzen verloren gegangen sind, die man braucht, um vor Ort die Kampagne des Landesverbandes schlagkräftig umzusetzen. Hinzu kommt, dass wir als gesamte Partei noch in Strukturen arbeiten, die aus einer Zeit stammen, in der wir doppelt so viele Mitglieder hatten. Das betrifft auf der anderen Seite aber auch die Zusammenarbeit zwischen der Landesebene und der Ebene der UB/KVs. Die Landeszentrale wirkt nicht nur geografisch oft sehr weit weg von der Partei vor Ort. Entscheidungen, die dort getroffen werden, werden vor Ort nicht immer verstanden oder kommen dort erst gar nicht an, wodurch es uns nicht gelungen ist, dass die Kampagne in der Breite mitgetragen wurde. Das aber wäre die Voraussetzung für einen erfolgreichen Wahlkampf gewesen – eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Ebenen mit einem Kopf, der die Kampagne plant, ganz vielen Beinen, die vor Ort laufen und einem starken Herz, das von Südwestfalen bis ins Münsterland, von Ostwestfalen bis ins Rheinland schlägt.

Diese drei Gründe für unser historisch schlechtes Abschneiden bei der Landtagswahl liegen auf der Hand. Zusätzlich gilt es, sich weiteren schwierigen Fragen zu stellen und das Ergebnis auch intern stärker und koordinierter aufzuarbeiten. Das ist eine Verantwortung, die sich nicht an eine externe Analyse delegieren lässt. Das ist eine Verantwortung, der wir uns selbst und allen voran der Landesvorstand stellen muss. Zur Wahrheit gehört dabei auch, dass das letzte Wahlergebnis der Tiefpunkt einer langanhaltenden Entwicklung ist. Mit Ausnahme der Landtagswahl 2012 verlieren wir als NRWSPD seit fast zwei Jahrzehnten kontinuierlich Wähler*innen. Daher reicht es nicht, sich nur das jüngste Wahlergebnis anzuschauen. Eine wirkliche Aufarbeitung desselben wäre gleichwohl ein guter Anfang.

Die NRWSPD von heute

Daran muss sich dann eine kritische Bestandsaufnahme anschließen, die den aktuellen Zustand der Partei in den Blick nimmt. Uns stehen nun fünf weitere Jahre der Oppositionsarbeit bevor, die deutlich besser werden müssen als die letzten. Dafür trägt die Fraktion in Zusammenarbeit mit der Partei Verantwortung. Gleichzeitig müssen wir als Partei die kommende wahlkampffreie Zeit nutzen, um uns konsequent zu erneuern. Dafür braucht es eine gewisse Form der Eigenständigkeit. Das ist in erster Linie die Aufgabe des Landesvorstandes, der einen entsprechenden Erneuerungsprozess initiieren muss. Zurzeit wird der Vorstand aber zu oft wie ein Aufsichtsrat geführt und nicht wie das zentrale politische Führungsgremium der Partei, das mit eigenen Initiativen vorangeht und in die Breite der Partei wirkt. Noch verfügen wir über ausreichende Ressourcen für einen solchen Prozess, aber wir setzen sie nicht immer sinnvoll ein. Hinzu kommt, dass die Partei nach dem “Rot pur!”-Prozess erneut kein Ort der Debatten mehr ist. Die einzelnen Teile der Partei verfolgen keine gemeinsame Strategie und stehen zu oft unverbunden nebeneinander. Auch das ist Ausdruck der bereits angesprochenen größer gewordenen Distanz zwischen der Landesebene und der Ebene der UB/KVs. Allein diese Skizze der NRWSPD von heute zeigt, dass wir so nicht weitermachen können. Die bisherigen Bemühungen zur Aufarbeitung des Ergebnisses und zur Erneuerung der Partei sind einfach zu wenig. Dies führt dazu, dass in rapider Kontinuität weitere Wähler*innen den Glauben an die NRWSPD und die Sozialdemokratie verlieren werden. Gerade, weil wir in den kommenden Monaten eine Zuspitzung der sozialen Unsicherheit erleben werden, ist es von enormer Bedeutung, dass die NRWSPD wieder die Partei wird, der Menschen zutrauen, die richtigen politischen Antworten für soziale und gesellschaftliche Schieflagen zu finden.

Die NRWSPD von morgen

Denn um eine starke NRWSPD von morgen zu schaffen reicht es nicht, sich auf eine externe Analyse zu verlassen. Wir müssen uns den Herausforderungen, die vor uns liegen, stellen und klare Handlungsempfehlungen erarbeiten. Neben der mangelnden Kampagnenfähigkeit müssen wir dabei vor allem folgende Herausforderungen angehen:

  1. Mit Blick auf die direkt gewonnenen Wahlkreise droht die NRWSPD zur Regionalpartei des Ruhrgebiets zu werden. Und selbst dort haben wir in absoluten Zahlen kräftig verloren. Von einigen Ausnahmen abgesehen ist unsere Repräsentation in der Breite NRWs in Gefahr. Darauf müssen wir auf zwei Arten reagieren. Zum einen braucht es eine Strategie für die Universitäts- und Großstädte, in denen wir zuletzt von den Grünen abgehängt wurden. Und zum anderen müssen wir eine Strategie für die ländlichen Regionen NRWs entwickeln, in denen die CDU die Nase vorn hatte. Klar sein muss, dass wir uns aus diesen Orten nicht zurückziehen dürfen, sondern gestützt durch die Landesebene der Sozialdemokratie ein neues überzeugendes Gesicht geben müssen. Nicht nur im Wahlkampf müssen wir präsent sein, sondern die Bürger*innen in NRW wieder dauerhaft davon überzeugen, dass wir ihre Lebensrealität kennen und ihre Sorgen sehen und dass wir darauf die richtigen Antworten haben.
  2. Neben der Frage, wie wir Menschen wieder in ganz unterschiedlichen Teilen NRWs von der Sozialdemokratie überzeugen können, müssen wir dringend die Frage klären, für welche gesellschaftlichen Gruppen wir eigentlich Politik machen wollen. Wenn Menschen den Glauben daran verloren haben, dass wir ihr Leben besser machen, dann muss uns das umtreiben, dann müssen wir uns um klarere Positionen und eine verständliche Sprache bemühen, um wieder glaubwürdig als Sozialdemokratie wahrgenommen zu werden. Und das heißt nicht, konservativen Ideen und Personalien hinterherzurennen, weil diese in Umfragen gute Werte vorweisen können. Aus unserem schlechten Wahlergebnis ergibt sich mitnichten die Notwendigkeit, sich an den Erfolgen der Konkurrenz zu orientieren. Ganz im Gegenteil erwarten die Menschen in Nordrhein-Westfalen zurecht ein klares sozialdemokratisches Profil links der Mitte.
  3. Angesichts der grünen Regierungsbeteiligung müssen wir als NRWSPD unsere Rolle gegenüber unseren Bündnispartner*innen neu definieren, um nicht überflüssig zu werden. Denn natürlich sind Regierungsparteien für Bündnispartner*innen häufig die attraktivere Ansprechstation. Dem müssen wir eine aktive Bündnisarbeit entgegensetzen, um gemeinsam Druck auf die schwarz-grüne Landesregierung zu machen.

Denn die gute Nachricht ist: Die NRWSPD wird gebraucht. Die schwarz-grüne Klientel-Koalition macht Politik für all diejenigen, denen es eh schon gut geht. Das ist gerade in Zeiten, in denen viele nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen noch bezahlen sollen, fatal. Als NRWSPD stehen wir an der Seite der Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, das Leben zu führen, das sie führen möchten. Und um dieses sozialdemokratische Versprechen wieder glaubhaft zu vertreten, müssen wir hart an uns arbeiten, das Wahlergebnis ehrlich aufarbeiten und die Erneuerung unserer Partei konsequent vorantreiben. Um folgende Punkte geht es dabei ganz konkret:

  • Verantwortung nicht delegieren: Eine externe Analyse zur Aufarbeitung des Wahlergebnisses ist zu wenig. Zumal wir als NRWSPD kein so großes Erkenntnis-, sondern vielmehr ein Umsetzungsproblem haben. Wir müssen uns auch selbst kritisch hinterfragen und konkrete Handlungsempfehlungen erarbeiten. Eine interne Arbeitsgruppe, die die Breite der Partei abbildet, ist dafür der richtige Weg.
  • Klarheit über das Ziel herstellen: Wir müssen gemeinsam die Frage beantworten, für wen wir eigentlich Politik machen und in einem zweiten Schritt unsere Beschlusslage entsprechend erneuern und schärfen. Ziel müssen eine sozialdemokratische Erzählung sowie Ideen sein, wie wir unsere Zielgruppen davon überzeugen können. Das gilt insbesondere für die vielen Menschen, die wir an das Lager der Nichtwähler*innen verloren haben sowie für die junge Zielgruppe.
  • Mitgliederpartei werden: Wir versammeln in unserer Partei viel Expertise und vielfältige Perspektiven, aber wir nutzen dieses Potential noch zu wenig. Machen wir die NRWSPD zu einer echten Mitgliederpartei mit niedrigschwelligen Bildungs- und Beteiligungsformaten und ganz verschiedenen Möglichkeiten zur Mitarbeit entsprechend der persönlichen Ressourcen. So nutzen wir die vorhandenen Potentiale, schaffen neue und werden auch wieder ein lebendiger Ort der Debatten und attraktiv für Neumitglieder.
  • Eine neue Diskussionskultur. Die Art und Weise, wie wir unsere Parteitage begehen, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Antragskommission erledigt die Arbeit der Delegierten, die dann nur noch bei vorgefassten Voten ihren Stimmzettel in die Luft strecken müssen. Eine lebendige Debattenkultur wird dadurch im Keim erstickt. Wir erneuern daher unsere Forderung nach einer Abschaffung der Antragskommission und nach einer quotierten Erstredner*innenliste auf Parteitagen sowie allen weiteren Veranstaltungen innerhalb der Partei.
  • Der Landesvorstand ist kein Aufsichtsrat. Er muss seiner Rolle als höchstem politischen Führungsgremium stärker gerecht werden. Dafür muss er seine Arbeitsweise dringend ändern. Keine Beschlussvorlagen mehr, die wenigen Stunden vor Sitzungsbeginn verschickt werden. Keine Arbeitsgruppen mehr, die kein Mal tagen. Der Landesvorstand muss seiner Arbeit mit einem Arbeitsprogramm Schwerpunkte geben, Bedarfe identifizieren und wenigen Arbeitsgruppen klare Zielvorgaben – inhaltlich wie zeitlich – geben. Und er muss die politische Betreuung der UB/KVs verbindlich aufteilen, um wieder in die Breite der Partei zu wirken.
  • Eigenständigkeit der Partei stärken. So wichtig eine gute Zusammenarbeit zwischen Fraktion und Partei ist, so wichtig wird es gerade in den kommenden Jahren sein, dass die Partei auch die Möglichkeit hat, sich unabhängig vom politischen Tagesgeschäft im Parlament eigenständig weiterzuentwickeln. Daher erneuern wir unsere Forderung nach einer Funktionär*innenquote von maximal 40 Prozent in allen SPD-Vorständen. Das heißt, dass maximal 40 Prozent der Vorstandsmitglieder zugleich auch ein Mandat in einem Parlament ausüben dürfen. Die*der erste Vorsitzende einer Parteigliederung soll nicht gleichzeitig Fraktionsvorsitzende*r sein.
  • Unsere Grundlagen stärken: Die NRWSPD muss wieder eine in der Breite kampagnenfähige Einheit werden. Die Ressourcen dazu sind (noch) da, aber sie sind falsch verteilt. Ein Schwerpunkt der strukturellen Neuaufstellung muss die Stärkung der UB/KVs sein. Dazu gehören insbesondere Angebote zur Stärkung der Mitgliederarbeit, Bildungsarbeit und Neumitgliedergewinnung vor Ort. Wenn es nicht zu einer strukturellen Verbesserung kommt, werden zukünftige Wahlkämpfe für schwächere Wahlbezirke nicht mehr stemmbar. Um dem entgegenzuwirken, benötigt es hier besonderer Unterstützung. Gerade in Wahlkreisen ohne Mandate soll überprüft werden, ob durch zusätzliche hauptamtliche Kraft eine Entlastung stattfinden kann. Ebenso sollen diese Wahlkreise auch in Wahlkampfzeiten nicht in Vergessenheit geraten, wenn es um landesweite Aktionen oder Besuche von hohen Parteifunktionär*innen geht. Um gezielt schwächer gestellte Wahlkreise zu unterstützen, sollen diese herausgearbeitet werden und Problemfelder analysiert werden. Dafür sollen die Wahlergebnisse der zurückliegenden Landtagswahlen als Maßstab herangezogen werden.
  • Vielfalt abbilden: Wir werden die Art und Weise, wie wir Kandidierende für politische Mandate gewinnen und wie wir die entsprechenden Listen aufstellen, reformieren. Unser Ziel ist es, dass unsere Landeslisten die Vielfalt der Gesellschaft und damit ganz unterschiedliche Lebensbiografien repräsentieren – insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte, nicht-weiße, queere und junge Menschen. Und durch entsprechende Berücksichtigungen auf den vorderen Plätzen der Listen soll dies auch in den Fraktionen der Fall sein.
  • Bildet Banden: Die Sozialdemokratie ist immer dann stark, wenn sie nicht nur für sich selbst besteht, sondern gesellschaftliche Bewegungen in schlagkräftige Politik transformiert. Das setzt den Kontakt und intensiven Austausch mit diesen voraus. Darum muss sich die NRWSPD wieder stärker bemühen. Das gilt sowohl mit Blick auf bestehende Bündnispartner*innen (Gewerkschaften, AWO, Falken etc.), aber auch mit Blick auf neu zu erschließende Partner*innen.

Die Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen wird gebraucht. Damit sie ihrem eigenen Anspruch, das Leben der Menschen konkret zu verbessern, gerecht werden kann, muss sie ihre Hausaufgaben machen und ihr historisch schlechtestes Ergebnis konsequent aufarbeiten sowie die jetzt notwendige inhaltliche, strukturelle und personelle Erneuerung konsequent angehen. Mit den hier formulierten Vorschlägen gehen wir diesen Weg gemeinsam an und sorgen dafür, dass das sozialdemokratische Herz in NRW wieder laut hörbar schlägt.