„Reißt das Jungfernhäutchen beim Sex?” – Aufklärung von Mythen und Stärkung der Sexualerziehung in NRW

Sexualerziehung ist ein unverzichtbarer Teil der Bildung an Schulen. Sie „soll Schülerinnen und Schülern helfen, ihr Leben bewusst und in freier Entscheidung sowie in Verantwortung sich und den anderen gegenüber zu gestalten”. So ist es in den „Richtlinien für die Sexualerziehung in NRW” niedergeschrieben, die seit 1999 den verbindlichen Leitfaden für den Sexualunterricht in Nordrhein-Westfalen darstellen. Trotz des betont vielseitigen und inklusiven Ansatzes der Richtlinien und ihrer Verbindlichkeit erleben viele Schüler*innen in NRW leider häufig immer noch eine einseitige Sexualerziehung, die auf den Biologieunterricht begrenzt wird und sich zwar extensiv mit Anatomie und Schwangerschaft auseinandersetzt, jedoch andere wichtige Fragestellungen (z.B. rund um LGBTIQ*–Rechte, sexuellen Missbrauch, Stigmata und Geschlechterrollen) vernachlässigt. So trägt die Sexualerziehung nur bedingt zur Normalisierung anderer Lebensformen und Entstigmatisierung des weiblichen Körpers bei und vermittelt stattdessen häufig eher ein heteronormatives Bild und lässt viele Fragen offen. Das liegt zum Teil daran, dass die Lehrkräfte für sexuelle Bildung nicht ausreichend ausgebildet sind. Deshalb fordern wir eine stellenweise Überarbeitung der bestehenden Richtlinien und eine stärkere Berücksichtigung dieser im Unterricht. Dazu sollen neben HIV auch andere sexuell übertragbare Krankheiten stärker in den Fokus gerückt werden. Zudem sollen sich Lehrkräfte in ihrer Aus- und Fortbildung stärker mit religiös-kulturellen Fragestellungen und Problemen in Bezug auf Sexualität auseinandersetzen, um ihren Unterricht diversitätssensibel gestalten zu können.

Sexualunterricht muss fächerübergreifend sein

Sexualität ist mehr als reine Biologie; mit Sexualität gehen auch ethische, soziale und kulturelle Fragen einher. Daher darf sexuelle Bildung nicht auf den Biologieunterricht begrenzt bleiben, sondern erfordert ebenfalls eine Thematisierung in Fächern wie Sozialwissenschaften und Pädagogik. Die Bedeutung einer fächerübergreifenden sexuellen Bildung wird in den Richtlinien zur Sexualaufklärung bereits betont. Die Schulen sollen nun verpflichtet werden, ein Konzept zur Sexualaufklärung auf Grundlage der Richtlinien zu erstellen. Damit Thematiken wie sexuellem Missbrauch, LGBTIQ*-Rechten und der kritischen Betrachtung von Geschlechterrollen fächerübergreifend genug Raum gegeben wird, sollen diese und weitere Aspekte der Sexualerziehung neben der expliziten Thematisierung in einzelnen Unterrichtsstunden darüber hinaus auch immer wieder implizit in unterschiedlichen Fächern aufgegriffen werden. Dies kann beispielsweise eine Geschichte im Deutschunterricht sein, in der eine Trans*Person vorkommt oder eine Matheaufgabe, in der es um eine Regenbogenfamilie geht.

Sexuelle Bildung für Lehrkräfte

Um eine gute, fächerübergreifende Sexualerziehung gewährleisten zu können, müssen alle Lehrkräfte entsprechend ausgebildet werden. Studien lassen jedoch erkennen, dass die sexuelle Bildung an unseren lehrerausbildenden Universitäten unzureichend ist. Tatsächlich besuchen viele Lehramtsstudierende aufgrund des mangelnden Seminarangebots während ihrer gesamten Ausbildung keine einzige Veranstaltung, die sexuelle Bildung an Schulen thematisiert. Wir sollten den Bedürfnissen von Lehrer*innen entsprechen und fordern daher, ein verpflichtendes Seminarangebot im Bereich der sexuellen Bildung für Lehramtsstudierenden aller Lehrämter an Universitäten in Nordrhein-Westfalen einzuführen. Vorbild soll die Einführung des DaZ-Moduls im Lehramtsstudium sein. Darüber hinaus befürworten wir ein umfangreicheres Fortbildungsprogramm für bereits ausgebildete Lehrkräfte. Für eine professionelle Sexualaufklärung ist aber auch der kontinuierliche Einsatz von u.a. Sexualpädagog*innen wichtig. Sie sind Expert*innen und dazu ausgebildet das Wissen pädagogisch und didaktisch der Zielgruppe entsprechend zu vermitteln. Außerdem ist das Thema Sexualität für viele immer noch ein sensibles Thema. Es kann daher angenehmer sein, wenn Schüler*innen die Möglichkeit haben mit einer Person darüber zu sprechen, der sie nicht immer wieder im Alltag begegnen und die sie nicht benotet. Es ist wichtig, dass der Einsatz von Sexualpädagog*innen an allen Schulen verpflichtend und damit für jede Schule leistbar ist, damit alle Schüler*innen auch in ihrer Schullaufbahn durch Sexualpädagog*innen aufgeklärt werden. Dies muss auch ab Grundschule in unterschiedlichen Lebensphasen der Schüler*innen geschehen. Sexualpädagog*innen lernen auch einen kritischen Umgang mit (sexuellen) Klischees und sind deswegen besonders wichtig für eine emanzipatorische Sexualerziehung.

Inhaltliche Verbesserungen der Richtlinien: Consent, sexueller Missbrauch im Internet und Entstigmatisierung des weiblichen Körpers

Die „Richtlinien für die Sexualerziehung in NRW“ stellen grundsätzlich eine gute Basis für eine angemessene sexuelle Bildung dar, in einigen Punkten besteht jedoch Verbesserungsbedarf. Das ist einerseits beim Thema sexueller Missbrauch der Fall. Die WHO geht davon aus, dass pro Schulklasse ein bis zwei Kinder von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Den Richtlinien für die Sexualerziehung in NRW ist dazu zu entnehmen: “Ein wichtiges Ziel schulischer Sexualerziehung ist es, bei jungen Menschen ein Verantwortungsgefühl und eine Haltung zu entwickeln, die die Herabsetzung und Missachtung von Partnerinnen und Partnern sowie die körperliche und seelische Schädigung durch sexuellen Missbrauch und sexuelle Ausbeutung ausschließen”. Um dieses Ziel angemessen umsetzen zu können, fordern wir neben der bereits erfolgenden Aufklärung über die Fragen, was sexueller Missbrauch ist und welche Handlungs- bzw. Abwehrmöglichkeiten Betroffene haben, gleichzeitig eine explizite Thematisierung von Fragestellungen rund um das Thema “Consent/Einverständnis”. Außerdem gilt es, die zunehmende Gefahr der sexuellen Gewalt in digitalen Medien (z.B. in Form von Cybergrooming, missbräuchlicher Verbreitung von Sexting oder Missbrauchsdarstellungen) in den Themenkatalog der Sexualerziehung aufzunehmen und Verhalten im Internet sowie Hilfsangebote bei Betroffenheit mit den Schüler*innen zu besprechen.

Andererseits herrscht bis heute eine große Stigmatisierung des weiblich gelesenen Körpers. Themen wie Menstruation, Hymen und weibliche* Genitalien sind entweder mythenbehaftet oder stigmatisiert. Die Folgen davon sind sexistische Bilder und Stereotypen, die sich schon während der Jugend reproduzieren. Insbesondere Mädchen* sind die Leidtragenden dieser Stigmatisierungen. Um Klischees und Vorurteile abzuwenden, wie es die Richtlinien grundsätzlich fordern, besteht eine Dringlichkeit, dass die Entstigmatisierung weiblicher* Körper inhaltlich explizit in die Richtlinien aufgenommen wird und Schulen die Stigmatisierung aufgreifen und bildungspraktisch behandeln.