WIDER DER NATIONALEN DENKE – FÜR EINE VIELFÄLTIGE UND SOLIDARISCHE GESELLSCHAFT

Eine neue Debatte muss aufbrechen
In den letzten Jahren ist ein Nationalgefühl in Deutschland aufgekommen, das in einer solchen Form in der bisherigen bundesdeutschen Geschichte nicht zu beobachten war. Zwar ist der deutsche Patriotismus gering ausgeprägt im Vergleich zu anderen, dennoch begegnen einem Nationalstolz und „Schwarz-Rot-Geil“ immer häufiger in Deutschland. Die Geschichte Deutschlands mit ihren unbeschreibbaren Gräueltaten hat die Generation des Nachkriegsdeutschlands gezeichnet und ein deutsches Nationalgefühl als nicht diskutabel geprägt. Dies bricht immer weiter auf, eine Generation wächst heran, die die Verbrechen des Dritten Reiches und ihre Auswirkungen nicht mehr direkt erleben musste. Auch das Echo dieser Zeit verhallt, da die Generation der nachkriegsbewegten PazifistInnen, deren persönlicher und biographischer Antrieb in der Aussage „Nie wieder Krieg“ zu finden ist, verstirbt. Dieses Jahr ist wieder die Fußballweltmeisterschaft. Im letzten Jahr feierten wir Graf Stauffenberg und Hermann den Cherusker. Mit dem Aufkommen eines nationalen Stolzes ging bis
dato keine kritische Analyse dieser Erscheinung einher oder zumindest nur in einem unverhältnismäßig geringem Umfang. Es besteht die Gefahr, dass der Stolz auf sein Land ohne dies differenziert zu hinterfragen, einfach adaptiert wird. Welche Gefahren birgt dies? Uns Jusos ist es wichtig, diesen Prozess nicht einfach passieren zu lassen, sondern genau diese kritische Hinterfragung in der Gesellschaft, in unserer Partei und bei uns selbst anzustoßen. Dabei wollen wir eine Diskussion führen, in der nicht Polemik den Ton angibt, sondern in der reflektiert und respektvoll argumentiert wird.

Die Mahnung der Vergangenheit
Die geringe Ausprägung des nationalen Stolzes in Deutschland ist dabei kein historischer Zufall sondern vielmehr eine nachvollziehbare Konsequenz aus der geschichtswissenschaftlichen und biographischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Der nationale Stolz war kein Beiklang der Nazi-Ideologie, er war ein zentraler Bestandteil. Deutsch-sein hatte hier in seinem direkten Umkehrschluss das nicht-deutsch-sein zur Folge. Die NationalsozialistInnen unter Hitler stellten „Deutsche“ in ihrer Wertigkeit über „Nicht-Deutsche“, die nach der Nazi-Ideologie weniger Wert waren und in der Konkurrenz um Lebensgüter mit der „deutschen Rasse“ standen. Diese menschenverachtende Ansichtsweise verwandt das Naziregime zur Legitimation des Expansionskrieges, der Ostfeldzüge und der Ausbeutung der besetzten Ostgebiete, der Zwangsarbeit der nach Nazi-Ideologie nicht arischen Menschen sowie der massenhafte Mord an ihnen.
Da die Propaganda und das Überheben des Deutsch-Seins einen treibenden Motor für die Akzeptanz dieser menschenverachtenden Handlungen in der Gesellschaft darstellte, war folgerecht die Abweisung des deutschen Nationalismus in der Nachkriegsgesellschaft zu verstehen.

Nationen sind nur erfunden
Um Nationalstaaten bzw. Räume abzutrennen von anderen, werden Grenzen gezogen. Diese Grenzen sind nur menschlich konstruiert, was dadurch am deutlichsten wird, dass sich Grenzen im historischen Zeitverlauf verändert haben oder vielmehr verändert wurden. Dass der eine Raum Deutschland ist und der andere Raum ein Nachbarstaat hat keine natürliche Begründung, es liegt nicht an dem Fakt, dass sich die Landschaft oder die Kultur dort abgrenzen würden. Der einzige Grund ist die subjektive menschliche Handlung, die diese Grenze genau an dieser Stelle gezogen hat. Oftmals wird versucht eine Eingrenzung durch
geographische Faktoren zu begründen. Aktuell kann dies im Integrationsprozess der Europäischen Union beobachtet werden, wo versucht wird, das Ende der räumlichen Integration in einer geographischen Begründung zu suchen und somit die Entscheidungsverantwortung von sich zu weisen. Dieser falsche Naturdeterminismus führt dazu, dass subjektive und interessensgeleitete Meinungen unter dem Deckmantel der Objektivität versteckt werden, um sie als die einzig sinnvolle Handlungsmöglichkeit dar zu stellen. Die Gefahr dieser Abgrenzung besteht genau in diesem Geodeterminismus. Grenzen werden als naturgegeben wahrgenommen und konstruieren hierüber vermeintlich homogene Gesellschaften, die sich von anderen abgrenzen. Diese vermeintlich objektive Andersartigkeit birgt stets die Gefahr, dass Menschen die eine konstruierte Gemeinschaft über die andere konstruierte Gemeinschaft stellen. Dies war in
der Vergangenheit ein Kernpunkt für kriegerische Auseinandersetzungen und für die „Blutund- Boden-Ideologie“, die ein zentrales Element des Dritten Reiches und auch heutiger Neonazis darstellt.

Die Nation, eine Worthülse
Eine interessante Beobachtung ist zu machen, wenn man danach fragt, was Deutsch-Sein bedeutet? Ist es gebunden an eine Sprache, an eine gemeinsame Kultur, an „deutschen“ Wesensmerkmalen? Was Deutsch-sein also ausmacht und nicht ausmacht ist nicht festgelegt. Und wenn es festgelegt wäre, so könnte man dies auch schnell widerlegen. Wenn die CDU auf ihrem Parteitag beschließt die Sprache in Deutschland ist deutsch, also eine Verknüpfung von Deutsch-Sein mit dem deutschen Sprachraum herstellt, dann kommen schnell Zweifel an dieser einfachen Deckungsgleichheit. Beispielsweise leben sorbisch-sprechende Menschen auch in Deutschland. Genauso zählt sich die deutsch-sprachige Gemeinde in Belgien zu Belgien. Eine solche einfache Verbindung ist also nicht her zu stellen. Worin kann also dann das Deutsch-Sein begründet werden. Die Antwort hierauf ist relativ simpel. Es gibt keine Eigenschaften. Nationale Identitäten sind leere Worthülsen die keinen wirklichen Inhalt haben. Die Crux ist, dass diese auch undefiniert und leer bleiben müssen, da nur so sich eine gesamte große Gruppe in ihm wiederfinden kann. Wäre er nicht im Grunde inhaltsleer und würde spezifische Eigenschaften definieren, wäre es nicht möglich eine große Gruppe
durch diesen repräsentieren zu lassen.

Die Gemeinsamkeit: Die Abgrenzung
Wenn eine Nation in sich so heterogen ist, wenn eine Nation eine sinnleere Worthülse ist, dann zeigt es sich, dass es schwer, wenn nicht unmöglich, ist sich über Gemeinsamkeiten zu definieren. Eine Nation definiert sich folglich nicht über Gemeinsamkeiten, sondern über ihre Abgrenzung zu anderen, die gemeinsame Abgrenzung vom vermeintlich Fremden. Besonders problematisch werden diese Tendenzen, wenn nicht mehr reflektiert wird, dass diese Grenzziehungen nur fiktiv und durch den Menschen konstruiert sind und somit als etwas Feststehendes, Natürliches wirken.

Homogene Gesellschaften – das Konstrukt
Das Denken in nationalen Containern induziert zudem eine vermeintliche Homogenisierung einer Gesellschaft. Keine Gesellschaft ist homogen, sodass folgerecht auch nicht von einer deutschen Kultur oder von deutschen Interessen die Rede sein kann. Kulturen sind nicht homogen und auch nicht konstant, sie sind individuell und verändern sich ständig, sie überschneiden sich und nehmen Elemente der anderen auf wodurch sie sich wieder weiter entwickeln. Der Schutz einer Kultur, einer deutschen Kultur, ist folglich nonsense, da durch die Inhaltsleere nicht definiert werden kann, was deutsch in einer deutschen
Kultur sein soll (siehe das Fehlen einer festen allgemeingültigen Definition), und weil versucht wird homogene Kulturgemeinschaften zu konstatieren, die wohl nie so bestanden haben und auch nie so bestehen werden. Der Schutz einer deutschen Kultur dient demnach nur dem Schüren von Ängsten einer vermeintlichen Überfremdung und das Abgrenzen und das Höher-Stellen seiner Kulturvorstellung gegenüber einer anderen. Die Gefahr von Diskriminierungen, Marginalisierungen und letztendlich Fremdenhass ist an dieser Stelle groß. Diese Gefahren bestehen im einen für die abgegrenzte Gesellschaft, außerhalb der eigenen, aber diese Gefahren bestehen auch für die Mitglieder der Gesellschaft selbst. Diese geraten unter der konstruierten Homogenität unter einen Uniformitäts- und Anpassungsdruck. Lebensentwürfe, persönliche Eigenschaften und Vorstellungen die von der dominanten abweichen, werden als anormal bezeichnet und marginalisiert. Ein Leben in einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Menschen keinen Anpassungsdruck an „deutsche Eigenschaften“
erleiden müssen, ist an dieser Stelle nicht möglich.

Ablenkung von Problemen
Nationalgefühl birgt auch immer die Gefahr Probleme und Missstände in einer Gesellschaft zu kaschieren und zu rechtfertigen. Angesichts des Deutschlands-Trubels im Rahmen der Welt- und Europameisterschaften bekommt man schnell den Eindruck, dass Nationalgefühl als kollektives Antidepressivum wirkt. In einer Gesellschaft, in der durch die Individualisierung von Lebensrisiken und der damit verbundene Aufkündigung des solidarischen Gesellschaftsprinzips,
der soziale Zusammenhalt bedroht ist, braucht es ein alternatives Kriterium der kollektiven Identifikation. So gewinnt Nationalität als ein solches, für jeden und jede leicht zugängliches Identifikationsmerkmal an Bedeutung. Das Wiedererstarken nationaler Identität und der Abbau des Sozialstaates in den vergangenen Jahren sind von daher zwei Seiten ein und derselben Medaille. In keinem anderen OECD Land hat sich die Einkommens- und Vermögensverteilung in den
letzten Jahren so gravierend auseinanderentwickelt, wie in Deutschland. Wissenschaftliche Studien belegen die Existenz einer Unterschicht, dem Prekariat. Während ein Niedriglohnsektor entsteht, explodieren ManagerInnengehälter. Die Teilnahme an demokratischen Prozessen, zum Beispiel Wahlen, ist drastisch gesunken. Dies alles zeigt uns: Gleichheit – materiell oder politisch – ist in Deutschland auf dem Rückzug. Wettbewerb und Ungleichheit in unserem Land produziert GewinnerInnen und in immer höherem Maß aber VerliererInnen. Nicht umsonst warnen kluge Köpfe wie Gesine Schwan vor gesellschaftlichen Unruhen. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen erleben wir das Angebot des Nationalgefühls als einen Kittungsversuch, mit dem unternehmerische und kapitalistisch-mediale Kräfte – zum Beispiel die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – versuchen, eine auseinanderdriftende Gesellschaft unter dem Mythos „Du bist Deutschland“ zusammenzuhalten. Es ist von daher unser Auftrag, dem Abbau des Sozialstaates entgegenzutreten und für eine Annäherung an Einkommens- und Vermögensgleichverteilung einzustehen. Der Schlüssel in der Bekämpfung einer nationalen Überhöhung liegt eben in der sozialen Absicherung, der Bereitstellung hinreichender Ausbildungsplätze und der Überwindung der Bildungsmisere. Auch müssen wir aufpassen, an welchen Stellen Keile in das Prinzip der Solidarität getrieben werden. Ist der demographische Wandel nicht viel zu sehr längst zum Peitschwort für einen erfundenen Generationenkonflikt geworden, mit dem weitere Ungleichheiten gerechtfertigt werden? Von all diesen gesellschaftlichen Problemen wird abgelenkt durch die lustvolle Betonung einer neuen, nationalen Identität.

Wir Jusos
Wir Jusos finden es wichtig dieses neue Nationalgefühl kritisch zu hinterfragen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass ein wenig Nationalgefühl nicht weit entfernt ist zu mehr Nationalgefühl, einem Kriterium der Abgrenzung, das auf willkürlichen Konstruktionen besteht und das der Keim ist für Fremdenhass und für menschenverachtende Ideologien. Natürlich führt Nationalgefühl nicht zwangsläufig hierzu, aber er öffnet die Türen für rechtes Gedankengut, genauso wie Stammtischparolen und „unbedachte“ Sprüche. Hierdurch halten wir es für gefährlich, wenn PolitikerInnen davon sprechen „stolz“ auf Deutschland zu sein, da
sie so einen weiteren Baustein für den salonfähigen Nationalstolz geben, mitsamt seinen negativen Implikationen. Wir Jusos streben den Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht über die Abgrenzung zu anderen an. Wir akzeptieren die Pluralität einer Gemeinschaft und streiten in dieser für einen sozialen Zusammenhalt, da dies unsere Überzeugung ist. Wir setzen uns dafür ein, den staatlichen Raum durch einen demokratischen und öffentlichen Diskurs zu gestalten. Hierfür befördern wir die politische und materielle Gleichheit aller. Wir leben in Deutschland, aber wir betonen, dass diese Grenzziehung nur eine subjektive
vom Menschen konstruierte ist. Deutschland ist eine administrative Einheit in der wir leben. Wir Jusos sind gemeinsam mit der SPD Teil der Sozialistischen Internationalen. Deshalb treten wir entschieden für ein solidarisches, transnationales Miteinander ein, in dem JedeR die Chance zur freien Entfaltung seiner selbst erhält. Wir folgen nicht unreflektiert dem aufkommenden deutschen Stolz. Wir kritisieren ihn, wir mahnen und wir lehnen ihn ab. Und wir machen dies nicht nur uns selbst deutlich, wir tragen dies auch in die SPD und in die Gesellschaft hinein. Wir wollen den demokratischen Diskurs anregen über die sozialen Probleme, die ursächlich sind für die derzeitige soziale Spaltung und dem damit einhergehenden wachsenden Nationalgefühl. Gerade in der globalisierten Welt, in der die Auswirkungen der Politik auch jenseits von Nationalgrenzen wirken, ist die Abschottung fatal. Wir beteiligen uns offensiv und vor allen Dingen kritisch an der aufkommenden Debatte um Assimilationsdruck, Fremdenhass und Marginalisierungen keine Chance zu lassen.