Wissenschaft nicht dem Markt überlassen – Gegen die Neoliberalisierung und Prekarisierung der deutschen Hochschullandschaft

Die Tendenzen neoliberaler Hochschulpolitik sind in den letzten Jahren immer stärker sichtbar geworden. So hat beispielsweise die schwarz-gelbe Landesregierung in NRW mit der Reduktion des Unterrichtsfaches Sozialwissenschaften auf die Bereiche Wirtschaft und Politik, dem überstürzten Umbau der Curricula und der damit einhergehenden Anpassung des Lehramtsstudiengangs deutlich gemacht, dass ihr ökonomische Bildung wichtiger ist als politische. Widerstand und Bedenken von Schüler*innen, Studierenden, Lehrer*innen, Wissenschaft, der GEW und weiteren Verbänden wurden ignoriert, um das eigene Prestigeprojekt durchzusetzen. Jubeln können nun nur die Unternehmen und deren Interessenverbände.

Der Umgang mit dem Schul- und Studienfach SoWi ist dabei nur ein Ausdruck der neoliberalen Vorstellung von Bildung und dem Wunsch nach einer marktförmigen Verwertung von Wissenschaft, welche unter der aktuellen Regierung in NRW weiter vorangetrieben werden kann. Staatliche Hochschulen befinden sich in diesem System im ständigen Wettkampf um Fördergelder und Drittmittel. Hochschulen, Fachbereiche und Disziplinen, aber auch einzelne Wissenschaftler*innen und Studierende sehen sich dem Druck ausgesetzt „wirtschaftlich verwertbare“ Ergebnisse zu liefern, um überhaupt Mittel für Forschung generieren zu können. Universitäten und Hochschulen funktionieren in diesem neoliberalen System zunehmend als kleine Unternehmen, die mit möglichst wenig Forschungsgeldern möglichst viel ökonomisch relevanten Output produzieren sollen.

Verstärkt werden solche Tendenzen auch durch die Exzellenzstrategie des Bundes, mit deren Hilfe Deutschland als internationaler Forschungsstandort gestärkt werden soll. Die Exzellenzförderung verkennt hierbei jedoch, dass eine Etablierung Deutschlands als internationale Forschungsgröße bereits an der unzureichenden Grundfinanzierung der deutschen Hochschulen scheitert.

Verlierer*innen dieser Effizienzideologie sind vor allem geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer, da sich diese nicht hinsichtlich ihrer ökonomischen Verwertbarkeit klassifizieren lassen. Eine Entwicklung, die auch zunehmend in den MINT-Fächern spürbar ist und die Vielfalt von Forschungsthemen akut bedroht.

Im Spannungsfeld von Wettbewerb, Exzellenzstrategie und Unterfinanzierung leiden besonders die Mitarbeiter*innen ohne Professur: Eine überwältigende Mehrheit von 81 % der Wissenschaftler*innen in Deutschland ist befristet angestellt und hangelt sich von Befristung zu Befristung. Sie tragen die Hauptlast von Lehre und Forschung, und scheiden nach maximal 12 Jahren aus dem Wissenschaftsbetrieb aus, wenn sie keine der rar gesäten Professor*innenstellen ergattern. Der Grund dafür hat einen Namen: Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG). Das WissZeitVG ist ein Sonderbefristungsgesetz, welches es ermöglicht, Wissenschaftler*innen im Rahmen einer Qualifizierungsphase wie der Promotion oder Habilitation für eine bestimmte Zeit anzustellen. In einem Erklärvideo des BMBFs aus dem Jahr 2018 wird anhand der fiktiven Wissenschaftlerin „Hanna“ der Sinn und Zweck der gängigen Befristungsregeln für wissenschaftliche Beschäftigte erläutert. Laut BMBF soll das WissZeitVG dazu dienen, dass der Wissenschaftsbetrieb nicht durch unbefristete Beschäftigte „verstopft“ (sic!) würde und nachkommende Generationen keine Möglichkeit hätten, selbst Fuß in der Wissenschaft zu fassen. Ein Jahr später pflichteten die Kanzler*innen der Hochschulen diesem Narrativ in der Bayreuther Erklärung bei und als dann auch noch die Corona-Pandemie die Arbeitssituation in der Wissenschaft weiter erschwerte, entbrach ein Sturm der Entrüstung in der Wissenschaftscommunity

Besonders auf Twitter zeigen Initiativen wie #ichbinhanna und #ichbinreyhan, dass Existenzängste und die hohe Arbeitsbelastung dazu führen, dass viele sich dazu entscheiden, die Wissenschaft frühzeitig zu verlassen oder im Ausland ihr Glück zu versuchen. Unterstützt und vorangetrieben wurde #ichbinhanna insbesondere von unseren Bündnispartner*innen der GEW und dem DGB sowie zahlreichen Wissenschaftler*innen.

Durch die mangelnde Planbarkeit einer wissenschaftlichen Karriere bleiben Dinge wie Familienplanung, Altersvorsorge, soziale Bindungen und mentale Gesundheit allzu oft auf der Strecke. Das trifft besonders Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte oder Rassismuserfahrung sowie Erstakademiker*innen. In der stark prekarisierten Wissenschaft überlebt nur, wer über ausreichende finanzielle Ressourcen und Netzwerke verfügt. Der Verlust an hochqualifizierten Fachkräften schadet der deutschen Wissenschaftslandschaft und rückt die Frage in den Fokus, ob so die Forschung und Wissenschaft der Zukunft in unserem Land aussehen soll? Wollen wir Forschung und Wissenschaft nur noch den Privilegierten und Unternehmen überlassen?

Wir fordern daher die Landes- und Bundesregierung auf, der Prekarisierung der Wissenschaft und Forschung einen Riegel vorzuschieben und das WissZeitVG grundlegend und im Sinne der Beschäftigten zu reformieren! Insbesondere die SPD-Bundestagsfraktion die 60 ihr angehörenden Jusos sehen wir in der Pflicht, zusammen mit den Gewerkschaften dafür zu kämpfen, dass das von der FDP geleitete BMBF den Versprechungen im Koalitionsvertrag gerecht wird!

Wissenschaft soll nicht aufgrund ihrer Verwertbarkeit und der Kapitalisierung von Forschung betrieben werden – es braucht die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Innovationen, um die Herausforderungen und drängenden Fragen unserer Gesellschaft zu meistern und zu beantworten.

Deswegen fordern wir:

  • Abkehr von der Idee der “unternehmerischen” Hochschule und des meritokratischen Narrativs, also der Vorstellung, dass alle über die gleichen Chancen und Bedingungen für einen Bildungsaufstieg verfügen und es “nur am Engagement der Einzelnen” läge. Um diese Neuausrichtung der Hochschulen zu ermöglichen, braucht es eine Neuaufstellung der Forschungs- und Grundfinanzierung im Rahmen von langfristigen Zielen. Forschung und Wissenschaft dürfen nicht von einem „schnellen Impact“ getrieben werden.
  • Förderung von Kooperationen zwischen Hochschulen, Disziplinen und Wissenschaftler*innen im Sinne einer solidarischen Wissenschaft statt eines kopflosen Wettbewerbs. Die SPD Landtags- und Bundestagsfraktion sollte sich daher für die Abschaffung der Exzellenzinitiative einsetzen.
  • Bildung liegt in den Händen des Landes und muss dementsprechend ausreichend finanziert werden. Dafür braucht es eine Reformierung der Finanzierung der Hochschulen im Sinne einer umfassenden Grundfinanzierung statt einer Vielzahl befristeter Programme. Diese muss entfristete Mittel für die Anstellung Dozierender beinhalten, damit es Dauerstellen für Daueraufgaben gibt und Betreuungsrelationen verbessert werden. Mittel aus dem Hochschulpakt (HSP) und dem Zukunftsvertrag Studium und Lehre (ZVL) müssen dabei wieder an die Lehre gebunden werden, damit diese nicht anderweitig eingesetzt werden können.
  • Forschen und Lehren muss von sozialer Herkunft entkoppelt werden und darf nicht Privileg einiger weniger sein, deren Eltern zufällig selbst Professor*innen mit ausreichend Kapital sind. Dazu braucht es ein Ende der prekären Verhältnisse der Wissenschaft und die Schaffung nachhaltiger Zukunftsperspektiven.
  • Wir fordern außerdemdass das WissZeitVG grundlegend reformiert wird, sodass wissenschaftliche Karrieren planbar werden. Dazu müssen dringend die Bereiche wie Projektbefristung, Qualifizierungsbefristung und Daueraufgaben klar getrennt und eng definiert werden, damit die Begründung für eine Befristung nicht willkürlich geschehen kann.