Europäischer Qualifikationsrahmen – grenzenlose und durchlässige Bildung

Beinahe unbemerkt von der politischen und medialen Öffentlichkeit vollzieht sich im europäischen Bildungswesen eine Revolution, an deren Schlusspunkt entweder das Ende des bewährten Modells der dualen Berufsausbildung oder der Einstieg in ein durchlässiges System des lebenslangen Lernens stehen kann. Die NRW Jusos wollen für dieses wichtige Thema frühzeitig eine politische Öffentlichkeit erzeugen und sich aktiv in die Gestaltung des Prozesses mit einbringen. Am 23. April 2008 trat die Empfehlung des Europäischen Parlamentes (EP) und des Rates zur Einrichtung eines Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) in Kraft. Mit dem EQR will die Europäische Union (EU) ein Referenzinstrument schaffen, um die Qualifikationsniveaus verschiedener nationalstaatlicher Qualifikationssysteme zu vergleichen. Dazu sollten die Vorgaben des EQR in sogenannte Nationale Qualifikationsrahmen (NQR) überführt werden. Bis 2010 sollte diese Angleichung der nationalen Qualifikationssysteme an den EQR abgeschlossen sein. Ab dem Jahr 2012 soll auf allen Qualifikationsbescheinigungen (z.B. auf Diplomzeugnissen, Bescheinigungen über absolvierte Berufsausbildungen etc.) die entsprechende Einstufung nach DQR ausgewiesen werden. Der durch die zuständige Bund-Länder-Koordinierungsgruppe eingerichtete Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR) ist mit der Umsetzung betraut. Der Prozess ist als Vorstufe zur Einführung eines europaweiten Kreditpunktesystems für die berufliche ildung zu erstehen, des sogenannten „European Credit System for Vocational Education“ (ECVET).

Chancen aus dem EQR-Prozess nutzen
Die NRW Jusos betrachten den durch den EQR eingeleiteten Prozess als eine historische Chance, in Europa den Einstieg in ein durchlässiges System des lebenslangen Lernens zu erreichen. Nutzt Europa diese Chance, können nach den Schlagbäumen an den nationalen Grenzen auch die unsichtbaren Hürden überwunden werden, die heute noch Menschen daran hindern, ihren Wohnort frei zu wählen und einen europaweiten Kompetenz- und Wissenstransfer behindern. Eine erhöhte Mobilität von Lernenden und ArbeitnehmerInnen, fördert den Integrationsprozess hin zu einer politischen Union, hilft nationalstaatliche Egoismen zu überwinden, verringert Marktbarrieren und unterstützt damit den europäischen Binnenmarkt. Als einheitlicher Zertifizierungsrahmen für berufsbezogene Qualifikation ist der EQR zugleich wichtiger Baustein eines Systems der Sozialen Sicherung in Europa.

Durchlässigkeit zwischen Schule, Beruf und Hochschule

Der EQR ist geeignet, zu einer völligen Durchlässigkeit zwischen schulischer, beruflicher und hochschulischer Bildung beizutragen. Deshalb ist die gleichrangige Einbeziehung von schulischen und beruflichen Abschlüssen aus Sicht der NRW Jusos von zentraler Bedeutung. Die Entscheidung der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF), allgemeinbildende Schulabschlüsse nicht in den DQR mit einzubeziehen, muss deshalb Rückgängig gemacht werden. Die NRW Jusos nehmen die Rot-Grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen in die Pflicht und wirken auf eine entsprechende Initiative innerhalb der KMK hin. Um eine wirksame Verbindung zwischen den drei Bereichen Schule, Beruf und Hochschule im DQR zu erreichen und die erworbenen berufsbezogenen Kompetenzen der jeweiligen Absolventen angemessen abzubilden, ist eine gleichrangige Einstufung der allgemeinen und fachbezogenen Hochschulreife sowie aller Berufsausbildungen des dualen Systems auf Kompetenzstufe fünf des DQR notwendig. Ebenso sprechen wir uns für eine gleichrangige Einstufung des Meisterbriefs mit dem Bachelor-Abschluss aus. Mit der Aufwertung des Meisters wollen wir neben einem gleichberechtigten Zugang zum Masterstudium auch eine Gleichbehandlung in der tariflichen Einstufung erreichen. Beides eröffnet perspektivisch die Chance, zu einer verstärkten Durchlässigkeit an der Schnittstelle zwischen Beruf und Hochschule zu kommen.

Outcome-Orientierung umsetzen – Unabhängigkeit von Lerndauer, Lernort und Lernform
EQR und DQR weisen den Kompetenzerwerb unabhängig von dessen Dauer, dem Ort und der Form aus. Ob die Fähigkeit zur Verrichtung gewisser beruflicher Tätigkeiten innerhalb weniger Monaten oder innerhalb eines Jahres, in einem Unternehmen oder einer schulischen Einrichtung, durch die Rezeption eines Vortrags oder praktische Erfahrungen entwickelt wurde, darf für den Ausweis dieser Kompetenz keine Rolle spielen. Das Prinzip der Outcome-Orientierung befürworten die NRW Jusos ausdrücklich. Dies erfordert, dass auch non-formal und informell erworbene Kompetenzen im DQR eingeordnet werden.
Praktisch bedeutet das: Hat eine Person bereits für viele Jahre im Verkauf einer odefirma gearbeitet, hat sie durch praktische Erfahrungen („On the Job“) Handlungskompetenzen entwickelt, die vergleichbar mit den Kompetenzen sind, welche in einer dualen Ausbildung im Einzelhandel erreicht werden. Auch in diesem Fall muss eine entsprechende Einstufung im DQR möglich sein. Will man mit Hilfe des EQR-Prozesses zu einer wirklichen Durchlässigkeit im Prozess des lebenslangen Lernens kommen, ist der Einbezug non-formal und informell erworbener Kompetenzen unabdingbar. Dieser Schritt darf in der Umsetzung des DQR nicht verschleppt werden. Um eine Einstufung gemäß DQR in der Praxis zu ermöglichen, fordern die NRW Jusos die Einrichtung eines kostenlosen und freien Validierungsmechanismus. Nur, wer weiß, welche Kompetenzstufe er durch private Weiterbildung oder Berufserfahrung erlangt hat, kann von der Durchlässigkeit des Systems profitieren. ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnenverbände müssen eng in die Entwicklung eines Einstufungssystems, insbesondere für die informell erworbenen Kompetenzen, einbezogen werden. Die Outcome- Orientierung muss auch bei der Frage der Entlohnung von Erwerbsarbeit Anwendung finden. ArbeitnehmerInnen, die ihre beruflichen Kompetenzen non-formal oder informell erworben haben, dürfen nicht gegenüber denen benachteiligt werden, die etwa eine Duale Ausbildung abgeschlossen haben. Auch hier gilt für die NRW Jusos das Prinzip gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit.

Duale Ausbildung erhalten – Privatisierung durch Fragmentierung verhindern
Der EQR-Prozess und die angestrebte Implementierung des ECVET stellen das bewährte System der dualen Ausbildung vor eine große Herausforderung. Die Vergabe von Kreditpunkten für einzelne Ausbildungsabschnitte birgt für die Unternehmen automatisch Fehlanreize, die wiederum zu einer Fragmentierung regulärer Ausbildungsberufe in einzeln prüfbare Ausbildungsmodule führen können. Die NRW Jusos lehnen eine Modularisierung und Verkürzung von Berufsausbildungen ab. Um das bewährte System der Dualen Ausbildung zu erhalten, fordern die NRW Jusos, ein Recht auf eine vollständige und abgeschlossene duale Berufsausbildung für jeden Auszubildenden. Die Duale Ausbildung als Garant für eine umfassende Berufsqualifikation sollte dabei beispielhaft für ganz Europa sein, denn das beste Mittel gegen Jugendarbeitslosigkeit ist eine gute Ausbildung.