Bildungsurlaub für Alle

Seit 1985, also fast 40 Jahren regelt in Nordrhein-Westfalen das „Gesetz zur Freistellung von Arbeitnehmern zum Zwecke der beruflichen und politischen Weiterbildung“ (im Folgenden nach seiner Abkürzung „AWbG“ (Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz) genannt) den sog. „Bildungsurlaub“ für Arbeitnehmer*innen, die in unserem Bundesland in einem regulären Beschäftigungsverhältnis stehen.

Das AWbG verfolgt dabei das Ziel, Arbeitnehmer*innen auch nach ihrer Ausbildung oder ihres Studiums, abseits von innerbetrieblichen Qualifizierungen, eine Möglichkeit der Weiterbildung zu bieten, die zeitlich nicht die zur Erholung gedachten und dringend benötigten Urlaubskontingente der Arbeitnehmer*innen belastet. Für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte sind dabei in jedem Jahr fünf bezahlte Urlaubstage vorgesehen, wobei der Anspruch aus zwei aufeinander folgenden Jahren auch zu zehn Tagen zusammengefasst werden kann.

Der Bildungsurlaub darf nur in Anspruch genommen werden, wenn der Arbeitnehmende in dieser Zeit eine nach AWbG §9 anerkannte Bildungsveranstaltung besucht. Vielfach werden solche Bildungsveranstaltungen auch von den DGB-Gewerkschaften angeboten. Dabei richten sich die Gewerkschaften mit einem breiten Bildungsangebot an die gesamte arbeitende Bevölkerung und ermöglichen so Weiterbildung für ältere Arbeitnehmer*innen, aber auch zielgruppengerechte Bildungsangebote wie Seminare für Auszubildende und junge Berufstätige. Hier kommen zwei wichtige Faktoren zusammen: Einerseits profitieren Arbeitnehmer*innen von hochwertigen Bildungsangeboten und andererseits entsteht in solchen Kontexten oft ein Interesse für Gewerkschaften und ihre Arbeit.

Obwohl wir also mit dem AWbG seit Jahrzehnten gute Erfahrungen gemacht haben, dürfen wir uns mit den aktuell geltenden Regelungen nicht zufriedengeben. Zwar wurde nach langem Ringen 2014 unter der Rot-Grünen Landesregierung endlich ein Recht auf Weiterbildung auch für Auszubildende in das Gesetz aufgenommen[1], allerdings werden den Auszubildenden in NRW lediglich fünf Tage für die gesamte Dauer ihrer Ausbildung, unabhängig von deren Dauer, zugestanden[2]Als Jusos verstehen wir uns als Interessensvertreter*innen der Auszubildenden und fordern daher den Anspruch auf Bildungsurlaub den angestellten Arbeitnehmer*innen in NRW gleichzusetzen. Dieser soll den Auszubildenden während ihrer Praxiszeiten im Betrieb zur Verfügung stehen. Anspruch auf 5 Tage Bildungsurlaub soll auch im letzten Ausbildungsjahr möglich sein.

Abgesehen von diesem Defizit, finden sich im AWbG weitere Optimierungsbedarfe. Denn längst nicht alle Arbeitnehmer*innen in NRW genießen die Privilegien des AWbG, schließlich unterscheidet es in §3 in der Frage der Berechtigung zwischen Arbeitsverhältnissen in Betrieben und Dienststellen mit über 50, bis zu 50 und bis zu zehn Beschäftigten. In Betrieben und Dienststellen, die unter 50 Angestellte aufweisen, ist der Arbeitgeber nur dann zu einer Freistellung im Sinne des AWbG verpflichtet, wenn nicht bereits zehn Angestellte im laufenden Kalenderjahr von diesem Recht Gebrauch gemacht haben[3]. Diese Bedingung ist dabei völlig willkürlich von der Gesetzgebung festgelegt und sollte aus dem Gesetz gestrichen werden. Für uns ist nicht ersichtlich, warum der Anspruch auf individuelle Weiterbildung davon abhängig gemacht werden sollte, ob Kolleg*innen selbst von diesem Recht Gebrauch machen oder nicht.

Insgesamt befanden sich 7.070.848 Menschen in Nordrhein-Westfalen im Jahre 2020 in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis[4]. Davon entfielen 1.282.158 Arbeitnehmer*innen auf Betriebe die unter 50 Angestellte haben, die also wie oben beschrieben kein umfängliches Recht auf Bildungsurlaub genießen.

Noch drastischer geht das AWbG jedoch mit den 781 317 Beschäftigten um, die in Betrieben mit weniger als zehn abhängig Beschäftigten arbeiten. Ihnen steht nach der aktuellen Rechtslage gar kein Bildungsurlaub zu1. Was auf den ersten Blick aus Rücksicht auf die Interessen der Unternehmer*innen verständlich erscheint, entwickelt sich bei näherer Betrachtung zu einem großen Problem: Auch wenn in kleinen Betrieben die durchschnittliche Betriebszugehörigkeitsdauer mit acht Jahren deutlich unter dem Bundesschnitt von rund 11 Jahren liegt[5], so erleben Arbeitnehmer*innen in diesen Kleinstbetrieben insbesondere auf lange Sicht gesehen ein erhebliches Defizit in Fort- und Weiterbildungen, eine Entwicklung, die durch den Mangel an innerbetrieblichen Bildungsangeboten noch befeuert wird. Bei vielen Kleinstbetrieben in Deutschland handelt es sich um klassische Handwerksbetriebe, also um Betriebe in Branchen, die ohnehin schlechte Organisationsgrade und dahingehend auch ausbaufähige gewerkschaftliche Repräsentation auszeichnet. Die Ermöglichung von Bildungsurlaub in Kleinstbetrieben könnte dazu beitragen, die gewerkschaftlichen Ideen von organisierter Arbeit in die Breite dieser Branchen zu tragen. Wir halten es daher für geboten, den siebten Absatz aus §3 AWbG zu streichen und damit den uneingeschränkten Zugang zu Arbeitnehmer*innenweiterbildung für alle durchzusetzen. Eine weitere vom AWbG nicht erfasste Gruppe ist die der Beamt*innen. Für die 337.790 verbeamteten Personen in NRW ergibt sich zwar ein Anspruch auf eine bezahlte Sonderfreistellung aus § 26 der Freistellungs- und Urlaubsverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen (FrUrlV NRW), allerdings ist dieser Anspruch nicht vollständig deckungsgleich mit dem Bildungsurlaub für Arbeitnehmer*innen, weshalb auch hier eine Gleichstellung notwendig ist. Als Jusos sind wir davon überzeugt, dass politische und berufliche Weiterbildung ein wichtiger Baustein für gute Arbeit in Zeiten der Transformation und damit unerlässlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist.

Unsere Forderungen lauten:

  • Die Angleichung des Anspruches auf Bildungsurlaub für Auszubildende an den Anspruch festangestellter Arbeitnehmer*innen
  • Die Streichung des Absatz 7 aus §3 AWbG, um die von der Betriebsgröße abhängigen Einschränkungen zu beseitigen (Bildungsurlaub für Alle)
  • Die vollständige Gleichsetzung der Anspruchsgrundlagen in § 26 FrUrlV NRW mit dem im AWbG definierten Bildungsurlaub.

[1] Gesetz- und Verordnungsblatt Ausg. 2014 Nr.40 vom 17.12.2014 S. 879- 888
[2] Gesetz zur Freistellung von Arbeitnehmern zum Zwecke der beruflichen und politischen Weiterbildung- Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz (AWbG9 §12a (1))
[3] Gesetz zur Freistellung von Arbeitnehmern zum Zwecke der beruflichen und politischen Weiterbildung- Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz (AWbG9 §3 (7))
[4] „Rechtliche Einheiten und deren Beschäftigte nach Beschäftigungsgrößenklassen (4) -kreisfreie Städte und Kreise – Jahre (ab 2019)“ aus dem Unternehmensregister-System (URS) der Landesdatenbank NRW stand 25.06.2022
[5] https://www.personalwirtschaft.de/news/recruiting/arbeitnehmer-bleiben-durchschnittlich-11-jahre-in-einem-unternehmen-133055/