Zeit für den Sozialstaat von morgen – Die SPD von den alten Gespenstern befreien!

Zeit für den Sozialstaat von morgen – Die SPD von den alten Gespenstern befreien!

Mehr als 15 Jahre nachdem die Vorschläge der sog. „Hartz“-Kommission diskutiert und schrittweise in Sozialpolitik umgesetzt wurden, ist es Zeit, eine ehrliche, abschließende Bilanz zu ziehen. Es ist Zeit, sozialpolitisch die heute insgesamt bestehenden Fehlentwicklungen aufzuarbeiten und den Blick auf die Zukunft zu richten, in der die drei gesellschaftlichen Großtrends Globalisierung, Digitalisierung und demografischer Wandel zu enormen Umbrüchen auf dem Arbeitsmarkt führen werden, die in Teilen schon begonnen haben. Neben vielen neuen Möglichkeiten und Vorteilen resultieren hieraus nie gekannte Anforderungen an das Qualifikationsniveau der Beschäftigten – und Risiken der Be- und Überlastung weiten sich massiv aus. Dem technologischen Veränderungs- und Flexibilisierungsdruck gepaart mit kapitalistischem Gewinn- und Rationalisierungsstreben wird nur mit einem gestärkten und vorsorgenden Sozialstaat gerecht Einhalt zu bieten sein.
Der Sozialstaat war für die Sozialdemokratie immer mehr als ein Solidarbeitrag für in Not geratene Menschen. Vor allem nach den Erfahrungen der Weltkriege und des Faschismus wurde die Stärkung des Sozialstaats in den europäischen Gesellschaften ein Grundpfeiler stabiler Demokratie. Diese elementare Funktion der Sozialstaatlichkeit galt lange als Konsens zwischen sozialdemokratischen, konservativen und liberalen politischen Kräften. Wenn heute Errungenschaften des Sozialstaates in Frage gestellt werden, die lange als Konsens galten, zeigt das, wie falsch die alte Dahrendorf-These von der Überflüssigkeit der Sozialdemokratie ist. Neoliberale Deutungsmuster haben eine Hegemonie über politische Debatten gewonnen, vor denen auch die Sozialdemokratie nicht gefeit war.
Deshalb kann es auch nur die Sozialdemokratie sein, die dem Sozialstaat neue Kraft einhaucht und die Idee einer solidarischen Arbeitsgesellschaft der Freien und Gleichen mehrheitsfähig macht. Aus dieser Perspektive formuliert dieser Antrag Anforderungen an eine überzeugende sozialdemokratische Sozialpolitik, die gute Arbeit und gesellschaftlichen Fortschritt ins Zentrum stellt.
Das sozialdemokratische Leiden am Komplex „Hartz IV“ abschließen
Gerade in der aktuellen Krise der bundesrepublikanischen und europäischen Sozialdemokratie bilden Konflikte um das Reizwort „Hartz IV“ einen anhaltenden, fast immer negativen Bezugspunkt – sowohl innerhalb der SPD selbst, aber auch in vielen nahestehenden (Wähler*innen-)Milieus und Organisationen (z.B. Gewerkschaften oder Sozialverbände). Faktisch lässt sich feststellen, dass der Komplex „Hartz IV“ die seit Jahren verbreitetste Erzählung gegen die Sozialdemokratie ist – ein Gespenst, das die SPD selbst gerufen hat? Zumindest sind andere, weit verbreitete, aber ältere Erzählungen gegen die Sozialdemokratie[1] dadurch weit in den Hintergrund gerückt. Mit allen vorherigen Anti-SPD-Erzählungen hat die Anti-„Hartz IV“-Erzählung gemeinsam, dass sie im Slogan „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ ihren Ausdruck findet, den schon Nazis und Kommunist*innen gemeinsam riefen.
Aufgrund der anhaltenden Debatte um „Hartz IV“, die auf vielen Ebenen von Jusos und Partei seither mit kritischen Beschlüssen beantwortet, aber von der Partei als Ganzes in der Breite nie erfolgreich abgeschlossen werden konnte, gilt es nun die Flucht nach vorn anzutreten. Grundlage dafür sind zwei Ausgangsannahmen:

 

    1. Die SPD kann oder wird – wie auch immer man inhaltlich dazu steht – sich wohl nicht explizit und vergangenheitsbezogen von den damaligen Reformen abwenden.

 

    1. Gleichzeitig haben wir aber auch aufgrund des Handlungsdrucks auf dem Arbeitsmarkt (Stichworte: Prekarisierung, Fachkräfteanforderungen, Digitalisierung, Globalisierung, ) keine andere Wahl, als das politische Feld neu zu bestellen und Fehlstellungen der Vergangenheit schnell und konkret zu korrigieren. Ansonsten verpassen wir sozialdemokratische Gestaltungsmöglichkeiten, riskieren unsere Rolle im politischen System – und überlassen dem freien Spiel der Kräfte auf globalisierten Märkten immer mehr Raum.

 

Wir wollen und müssen – zumindest innerhalb der sozialdemokratischen Familie – das eigene Leiden und Verzagen an „Hartz IV“ ein für alle Mal abschließen. Weil nicht zu sehen ist, wie ein Vergangenheits- und Negativdiskurs in der aktuell existenziellen Krise der Sozialdemokratie konstruktiv gelöst werden kann, können wir die „Hartz 4“-Frage nur nach vorne hin auflösen. Um diesen Negativdiskurs endlich zu überwinden, bieten folgende Punkte die Ausgangslage:
à „Hartz IV“ ist gesellschaftlich zu einem Symbolwort für Einschnitte in soziale Sicherungssysteme geworden, wobei der eigentliche Bedeutungshintergrund den meisten Menschen dabei nicht präsent ist. Was war also der sachliche Hintergrund? Die Arbeitsmarktreformen für „Moderne Dienstleistungen auf dem Arbeitsmarkt“ gehen auf die von dem damaligen VW-Personalchef Peter Hartz (langjähriges SPD- und IG Metall-Mitglied) geleiteten sog. „Hartz-Kommission“ im Jahr 2002 zurück – vor heute ca. 16 Jahren! In den Folgejahren, bis 2005, wurden die Kommissionsberichte unter der zweiten rot-grünen Bundesregierung in Gesetzen umgesetzt– immer mit obligatorischer Mitwirkung des von CDU/CSU dominierten Bundesrates. Der Kompromisscharakter der Gesetze sticht stark heraus. Die sog. „Hartz“-Gesetze bildeten den arbeitsmarktpolitischen Teil der Agenda 2010. In deren Rahmen stach das als „Hartz IV“ deklarierte Gesetz zur Vereinheitlichung/Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe (war am vorherigen Einkommen orientiert) und Sozialhilfe (als absolutem Minimum für alle, die nie in Erwerbsarbeit waren) heraus.
à Aus den „Hartz“-Arbeitsmarktreformen und konkret „Hartz IV“ resultierte, dass Menschen, die nach einem jahrzehntelangen Erwerbsleben arbeitslos wurden und auf solidarische Versicherungsleistung der Arbeitslosenversicherung angewiesen waren, in der Regel nach einem Jahr Arbeitslosengeld in die neue Grundsicherung („Hartz IV“) abzurutschen drohten. Vorher stand ihnen eine höhere, prozentual bemessene Arbeitslosenhilfe zu. Dieser Fakt, der relativ niedrig bemessene Satz der Grundsicherung sowie strikte Regelungen der Zumutbarkeit für neue Arbeitsverhältnisse befeuerten eine gesellschaftliche Abstiegsangst, die in viele Bereiche der Mittelschicht ausstrahlte. Diese Abstiegsangst war am prägendsten für die gesellschaftliche Bedeutung des Begriffs „Hartz IV“.
à Prägend für die Reformen war eine komplett andere ökonomische und politische Gesamtsituation als heute: In der Bundesrepublik gab es – aufgrund der angewachsenen Langzeitarbeitslosigkeit und ökonomischen Rezession – mehr als fünf Millionen Arbeitslose. Aus dieser Gesamtlage resultierte, dass die öffentliche Hand (von der Kommune bis zum Bund) hohe Haushaltsdefizite aufwies. Zudem galt die Bundesrepublik aufgrund ihres Schuldenstandes im Verhältnis zum BIP in der politischen und ökonomischen Öffentlichkeit sowie auf den Finanzmärkten als „überschuldet“. In dieser Zeit war auch das prägende Negativbild des „kranken alten Manns Europas“ dominant, welches die geschwächte Situation der Bundesrepublik im europäischen Gesamtbild reflektierte. Von dieser Situation der Schwäche konnten sich auch gewerkschaftliche Arbeitskämpfe und Tarifergebnisse nicht freimachen, denen in dieser Zeit „Lohnzurückhaltung“ vorgeworfen wurde.
à Aus sozialdemokratischer Sicht ist höchst relevant, dass die „Hartz“-Reformen und die Agenda 2010 noch klar dem – in der Sozialdemokratie der westlichen Welt weitreichenden – von „New Democrats“ (USA/Clinton) und „New Labour“ (UK/Blair) inspirierten Zeitgeist zuzurechnen sind: Grundsätzlich versuchten diese Ansätze, das sozialdemokratische Streben nach gesellschaftlicher Solidarität und Umverteilung mit dem gesellschaftlich dominanten neoliberalen Marktdenken und -handeln in Einklang zu bringen. Auch in der Bundesrepublik schlussfolgerten viele – befeuert durch die Machtlosigkeit in den bleiernen Jahren schwarz-gelber Kohl-Regierungen und den zeitgleich sich vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen (sozialdemokratische Bildungsexpansion schlägt durch; Individualisierungsprozesse erfassen immer mehr Menschen) –, dass die Sozialdemokratie allein mit ihrer eigenen, auf Solidarität(sgefühl) aufbauenden (u.a. gewerkschaftlichen) Kernklientel schwieriger erfolgreich sein könne. Denn durch die erfolgreiche sozialdemokratische Bildungsexpansion wurden aus vielen Facharbeiter*innenkindern höchst erfolgreiche Akademiker*innen auf dem Arbeitsmarkt und im Staatsdienst. Diese rechneten ihren beruflichen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg nicht primär sozialdemokratischer Politik zu, sondern starken individuellen Anstrengungen (die natürlich genauso stark vorhanden waren wie die Erfolge sozialdemokratischer Politik). Allein auf Basis des klassischen sozialdemokratischen Strebens nach sozialer Gerechtigkeit – so die Annahme – ließen sich diese Bildungsaufsteiger*innen nicht mehr binden. Mit der strategischen Ausrichtung der „Neuen Mitte“[2] versuchte die SPD bei der Bundestagswahl 1998 mit dem Doppelslogan aus „Innovation“ (was Schröder verkörperte) und „Gerechtigkeit“ (wofür eher Lafontaine stehen sollte) breitere Schichten zu adressieren, um bei den Wahlen eine Mehrheit für Rot-Grün zu gewinnen. In der Folge wurde aus diesem zuerst kommunikativen Ansatz in Teilen ein inhaltlicher, der sich praktisch in den Folgejahren durchschlug im gemeinsamen „Schröder-Blair-Papier“, in rot-grünen Steuersenkungen, der Finanzmarktderegulierung, in (Teil-)Privatisierungen öffentlicher Unternehmen sowie einigen Ansätzen der Agenda 2010. Ohne alle Reformdetails und Kompromisse pauschal bewerten zu können, ist bei vielen Politikansätzen der neoliberale Zeitgeist von Vermarktlichung, Flexibilisierung und Deregulierung zu spüren. Sozialdemokratische Ansätze gerieten in der politischen Kommunikation spätestens mit dem eher negativ konnotierten „Fördern und Fordern“ unter die Räder. Den „Hartz“-Reformen fehlte nicht nur der Bezug auf ein normativ positives sozialdemokratisches Menschenbild, sondern auch ein gesamtpolitischer/-gesellschaftlicher Rahmen von mehr Solidarität, besserer Arbeit und Umverteilung, ohne den die SPD – gerade unter den Bedingungen eines globalisierten Kapitalismus – sicherlich keine erfolgreiche und gerechte Arbeitsmarktpolitik gestalten kann.
Eine solidarische Arbeitsgesellschaft der Freien und Gleichen: Sozialdemokratisches Menschenbild als Orientierungsrahmen
Den häufigen (häufig richtigen) Vorwurf der Unkenntlichkeit sozialdemokratischer Zielvorstellungen lässt sich vielen Protagonist*innen einer „Neuen Mitte“/New Labour-Politik im Nachhinein nur schwer machen: Denn was anderen (heute) an normativen Ausdruck fehlt, trug z.B. Gerhard Schröder immer auf der Zunge, wenn er z.B. von „Fördern und Fordern“ oder „mehr Eigenverantwortung“ und der Kürzung sozialer Absicherung sprach. Das dahinterliegende Menschenbild ist jedoch – wie z.B. die Historikerin und Sozialdemokratin Helga Grebing kritisierte[3] – stark von einem vor allem nutzenmaximierenden und wettbewerbsorientierten[4] Menschenbild geprägt, das deutlich von der neokonservativen Hegemonie des Neoliberalismus beeinflusst ist: Diesem Menschenbild zufolge ließen sich gesellschaftliche Probleme primär dadurch lösen, dass der Mensch durch mehr Eigenverantwortung und stärkeren staatlichen Druck auch automatisch größere Anstrengungen und Leistungen zeige. So wirksam die Triebfedern des „Fördern und Forderns“ in der Realität sind, so wenig spiegeln sie ein positives und vollständiges sozialdemokratisches Menschenbild wider. Stattdessen überbetonen sie die Notwendigkeit, Menschen antreiben zu müssen.
In der Tradition der demokratischen Arbeiter*innenbewegung muss es der SPD immer um Fortschritt sowie freie und gleiche Menschen gehen. Gesellschaftlich heißt das: Alle so, wie sie können; für jede*n so viel, wie sie*er braucht. Ebenso muss klar sein: Fortschritt gibt es nur durch Arbeit, also die schöpferische Kraft des Menschen zur Veränderung der Welt zum Besseren, zum Beispiel durch die allgegenwärtige Verwendung von Maschinen. Menschliche (primär erwerbsorientiert organisierte) Arbeit ermöglicht nicht nur gesellschaftliches Vorankommen und einen Lebensunterhalt, sondern bietet den Menschen eine durch nichts zu ersetzende Erfüllung: Aus selbstverdientem Lebensunterhalt resultiert eine eigene Selbstachtung und ein positives Selbstwertgefühl. Damit ist das eigene Schaffen der Dreh- und Angelpunkt für gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe. Sie ist unerlässlich für die Herausbildung einer selbstbewussten Persönlichkeit. Arbeit gibt Menschen Ordnung, Halt und Stabilität. Sie trägt zu einem geistigen und körperlichen Wohlbefinden bei. Umkehrt fördert Arbeitslosigkeit gesellschaftliche Ausgrenzung und macht Menschen krank. Damit ist Arbeit nicht nur Ort, sondern auch Schlüssel gesellschaftlicher Teilhabe. Hinzu kommt: Mehr Gleichheit und Freiheit hat es unter den Bedingungen des Kapitalismus[5] vor allem dann gegeben, wenn die Menschen ihre (Gegen-)Macht im Arbeitsleben und der Demokratie solidarisch eingesetzt haben, um ihre Arbeitsbedingungen und deren sozialstaatliche Absicherung zu verbessern, ihre Löhne und Teilhabe am Arbeitsplatz zu erhöhen und die Arbeitszeiten zu reduzieren.
Wenn die SPD heute erfolgreich sein will, wird es auch jetzt darauf ankommen, neue Fortschrittsversprechen für alle an bessere Arbeit zu knüpfen, die mit einem Mehr an Teilhabe verbunden sein muss. Ohne eine (immer zeitgemäß aktualisierte) Losung dieser Art fehlt der SPD ihre (reformistische) Existenzgrundlage.
Vorsorgender Sozialstaat als Antwort auf Globalisierung und Digitalisierung
Ein real bestehendes Problem, das die New Labour/Agenda-Politik richtigerweise adressierte, war der Schritt vom versorgenden zum vorsorgenden Sozialstaat. Alleine deshalb, weil durch nie gekannte globale Verflechtungen (Globalisierung) und immer digitaleres Arbeiten (Digitalisierung) die Veränderungsgeschwindigkeit im Arbeitsleben enorm zugenommen hat, reicht es nicht mehr, alleine die Versorgung derjenigen, die der Solidarität bedürfen, einzuplanen. Vielmehr muss es präventiv durch beste Bildung, eine Ausweitung der betrieblichen Weiterbildung uvm. darum gehen, den Weg der Veränderung laufend und vorsorgend mit den betroffenen Menschen zu gestalten.
Um die Veränderungsbereitschaft der Menschen abzusichern, braucht es einen Ausbau der kollektiven Absicherung durch die Arbeitslosenversicherung, die zu einer Arbeitsversicherung ausgebaut werden muss. In dieser sollte der Zeitraum, in dem Anwartschaftszeiten auf Arbeitslosengeld I gesammelt werden können, wieder von zwei auf drei Jahre verlängert werden (Rahmenfrist). Die Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen darf die Rest-Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld I nicht verkürzen. Für Ältere ab 50 Jahren muss die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I um bis zu sechs Monate verlängert werden. Alleinstehende Bezieher*innen von Arbeitslosengeld I, die ergänzend Grundsicherung zur Aufstockung beziehen, sollten alle Leistungen aus einer Hand von den Arbeitsagenturen erhalten.
Qualifizierung zur Stärkung der Beschäftigten, nicht zur besseren Verwertbarkeit
In der Korrektur und Erweiterung der „Hartz“-Gesetze braucht es jetzt schnellstmöglich einen Umbau der Agentur für Arbeit zu einer Agentur für Arbeit und Qualifizierung, die präventiv im Betrieb berät; zudem einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung; ein für Qualifizierung frei verfügbares Chancenkonto; eine Stärkung des Bildungsurlaubs; den Ausbau des Arbeitslosengeldes I zu einem „Arbeitslosengeld für Qualifizierung“, wie es die SPD schon im Wahlkampf gefordert hat.
Aus sozialdemokratischer Sicht ist dabei entscheidend, dass es immer um bessere Arbeit, größere Entfaltungsmöglichkeiten und mehr Selbstbestimmung für die Menschen geht – und nie um eine bloße Steigerung des „Humankapitals“ im kapitalistischen Verwertungsbetrieb.
Gute Arbeit statt Grundsicherungszuschuss durch die Stärkung von Tarifverträgen und Gewerkschaften
Weil der Weg zu Fortschritt und gleichen Menschen über Arbeit führt, muss immer die positive und inklusive Gestaltung dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen. Erwerbsarbeit, die möglichst sinnstiftend gestaltet ist, tariflich bezahlt wird, nicht krank macht, Zugang zu Weiterbildung bietet und familienfreundlich ist, erfüllt Menschen, verschafft ihnen Würde, Anerkennung und Teilhabe in unserer Gesellschaft. Und dank der Absicherung der Sozialsysteme bietet solche Arbeit die beste Absicherung vor individuellen Lebensrisiken und z.B. Altersarmut.
Unter Druck gerät dieses System guter Arbeit vor allem durch aktuell um sich greifende prekäre Arbeitsverhältnisse (unnötige Befristungen, Scheinselbstständigkeit/Werkverträge, schlechter bezahlte und unsichere Leiharbeit) und die unsägliche Tarifflucht vieler Unternehmen. Durch diese Verwerfungen ist das Erfolgsmodell der Tarifautonomie[6] arg angeschlagen. Von sozialdemokratischer Seite bedarf es daher aller möglichen Anstrengungen, um Gewerkschaften und die Tarifbindung wieder zu stärken. Dafür braucht es die rechtliche Aufwertung von Tarifverträgen, die Einführung von Sonderstaatsanwaltschaften für Vergehen gegen die betriebliche Mitbestimmung und arbeitsrechtliche Verstöße und die Ausweitung der Mitbestimmung im Betriebsverfassungsgesetz (z.B. bei Fragen von neuen Technologien, Leiharbeit, Werkverträgen und Crowdworking).
Auch mit weiteren Maßnahmen müssen Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung zurückgedrängt werden. Dazu gehört auch die weitere Anhebung des Mindestlohns auf ein tatsächlich existenzsicherndes Niveau.
Vorrang für Investitionen statt schwarzer Nullen: Der Staat schafft den Markt
Gute Arbeit für alle heißt auch, dass der Staat die Voraussetzungen für eine gute Wirtschaft schaffen muss. Durch Instrumente wie Schuldenbremsen und die Erklärung einer „schwarzen Null“ als politisches Ziel wird die Handlungsfähigkeit des Staates massiv eingeschränkt.
Um einen guten Arbeitsmarkt zu schaffen, muss der Staat stärker in Infrastruktur, Innovation und Bildung investieren. Hilfreich wäre etwa eine festgelegte positive Investitionsquote von 3,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Infrastruktur.
Vorrang für Berufsausbildung: Aus „Unversorgten“ dürfen keine Abgehängten werden!
In der allgemeinen Diskussion um derzeitigen und zukünftigen Fachkräftemangel wird die Hauptursache hierfür häufig unerwähnt gelassen: Alleine in NRW wird jährlich eine Kleinstadt junger Menschen in die (temporäre) Perspektivlosigkeit entlassen, weil sich mehr als 20.000 zwar um eine Ausbildungsstelle bemühen, aber keine finden. Gerade in dem für die Fachkräfte-Ausbildung zu Recht oft gelobten dualen Ausbildungssystem mangelt es an Ausbildungsstellen. Nur selten stehen für einen Auszubildenden die 1,2 Ausbildungsstellen zur Verfügung, die rein statistisch erst ein auswahlfähiges Angebot kennzeichnen.
Die Folge dieses skandalösen Defizits ist, dass sich selbst in wirtschaftlich starken Landkreisen Tausende unversorgte junge Menschen im Alter zwischen 25 und 35 angesammelt haben, die bisher keine Ausbildung absolviert haben und sich mit Grundsicherung oder Gelegenheits(neben)jobs über Wasser halten. Dieser Zustand ist absolut nicht hinnehmbar und erfordert schnelle Lösungen – nicht nur vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und realen Fachkräftebedarfs, sondern alleine moralisch! Die Zeit von unwirksamen freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft (Stichwort „Ausbildungskonsens“) muss vorbei sein. Es braucht endlich effektivere Maßnahmen, um Unternehmen und Verwaltungen dazu zu verpflichten, mehr Ausbildungsstellen zu schaffen. Wir fordern hier eine regional flexible Ausbildungsplatzumlage, die mehr ausbildende Betriebe entlastet und nicht oder zu wenig ausbildende Unternehmen belastet.
Zur Wahrheit gehört, dass auch heute schon freibleibende Ausbildungsstellen gibt. Damit diese Stellen zukünftig besetzt werden können, müssen sie attraktiver und für junge Menschen zugänglicher werden. Hierzu bedarf es besserer Ausbildungsvergütungen (durch höhere Tarifbindung) sowie der schnellen Umsetzung einer existenzsichernden Mindestausbildungsvergütung. Hinzukommen müssen regional angepasste Maßnahmenpakete, die u.a. die Mobilität für Auszubildende (durch besseren ÖPNV und landesweite sowie preisgünstige Azubi-Tickets) verbessern sowie neue temporäre Wohnlösungen z.B. in attraktiven Azubi-Wohnheimen ermöglichen.
Klar ist: Eine hochwertige Berufsausbildung für alle jungen Menschen muss Vorrang haben und bedarf eines höheren finanziellen Einsatzes der Unternehmen, der öffentlichen Hand und der Arbeits(losen)versicherung. Finanziell muss eine Berufsausbildung für alle attraktiver sein als Grundsicherung oder Gelegenheitsjobs. Im Bedarfsfall müssen wirksame Prämien (für Zwischen- und Abschlussprüfungen) ausgerufen und andere Hilfen eingesetzt werden. Denn wer unversorgt bleibt, droht von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung dauerhaft abgehängt zu werden.
Anhebung der Grundsicherung und Änderung der Zumutbarkeitsregelungen – Abschaffung von Sanktionen
Der Kampf gegen Armut erfordert ein angemessenes Grundsicherungsniveau, das bedarfsgerecht und armutsfest ist. Menschen, die aktuell gar nicht oder so mangelhaft ins Erwerbsleben eingebunden sind, dass sie Grundsicherung oder eine Aufstockung zum Grundsicherungsniveau bekommen, dürfen weder gesellschaftlich noch finanziell an den Rand gedrängt werden. Deshalb fordern wir, das bisherige „Hartz IV“-System zu überwinden, indem auf Basis einer Sachverständigenkommission eine armutsfeste und bedarfsdeckende Erhöhung und Neubemessungsgrundlage der Grundsicherung erarbeitet wird, die anschließend in politische Reformen gegossen werden muss. In diesem Rahmen ist auch zu klären, dass Sanktionen, die das festgelegte Existenzminium einschränken, nicht mehr zulässig sind. Bei den Zumutbarkeitsregelungen muss zudem geklärt werden, dass diese einem Leitbild gesellschaftlich wünschenswerter Arbeit angepasst werden. Es muss zukünftig verhindert werden, dass die gesellschaftliche Grundsicherung zum Einfallstor für prekäre Beschäftigung wird. Darüber hinaus möchten wir dem Bild des sanktionierenden Sozialstaats das des belohnenden Sozialstaats entgegensetzen, wo Arbeitslosigkeit nicht gesellschaftliche Teilhabelosigkeit bedeutet. Wir fordern daher, dass Leistung und Engagement nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch in der Erwerbslosigkeit belohnt werden. Das heißt für uns beispielsweise, ehrenamtliches Engagement, besondere Leistungen wie außerordentliche Bemühungen bei der Arbeitsplatzsuche oder sonstige Einbringungen in die Gesellschaft finanziell und/oder mit anderen Förderungen zu entlohnen.
Einführung einer bedarfsgerechten und einkommensunabhängigen Kindergrundsicherung
Weil die Kinderarmut seit Jahren wächst, aktuell schon jedes fünfte Kind als arm gilt und sich bisherige Kinderförderung vor allem an Familien mit mittleren und höheren Einkommen richtet, fordern wir die Einführung einer bedarfsgerechten und einkommensunabhängigen Kindergrundsicherung. Diese würde keine Kinder schlechter stellen, aber Kindern in Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung enorm helfen. Um dies umzusetzen, braucht es eine umfassende Reform des bisherigen Fördersystems aus Kindergeld, Kinderfreibeträgen und Regelbedarfen der Grundsicherung. Die Höhe der Kindergrundsicherung muss politisch so bemessen werden, dass kein Kind in Armut aufwachsen muss.
Um allen Kindern gleichere Lebenschancen zu bieten, müssen begleitend zur Einführung der Kindergrundsicherung die Bildungsinvestitionen in Ganztagsbetreuung, frühkindliches Lernen und bessere Bildungs- und Förderangebote weiter ausgebaut werden.
Verbesserung der Arbeitsvermittlung und Abschaffung der Jobcenter
Die Arbeitsvermittlung sollte dadurch verbessert werden, dass die hinderliche Doppelstruktur mit den Jobcentern sozialrechtlich abgeschafft wird. Die Bundesagentur für Arbeit sollte „Arbeitsvermittlung aus einer Hand“ für alle anbieten. Dafür muss sie in ihren Kompetenzen gestärkt wird, um von der Breite der Menschen als eine helfende Behörde wahrgenommen zu werden. Dabei gilt es für uns durch wissenschaftliche Studien zu klären, warum es aktuell zu so vielen abgesagten Terminen beim Jobcenter kommt – und wie sich dies verhindern lässt.
Die Beratungs- und Qualifizierungsangebote der Arbeitsagentur müssen besser und passgenauer werden. Nicht hinnehmbar ist es, dass aktuell der größte Teil der Eingliederungshilfen für Bezieher*innen der Grundsicherung für Verwaltungskosten aufgewendet werden muss. Hier braucht es eine bedarfsgerechte, dynamische Anpassung der zur Verfügung stehenden Mittel. Wenn sich für Arbeitssuchende in einer längeren Zeitspanne keine geeignete Beschäftigungsmöglichkeit bietet, braucht es folgender, besserer Anschlussangebote.
Schaffung eines sozialen Arbeitsmarktes: Aktiv-Passiv-Transfer & solidarisches Grundeinkommen, damit niemand durchs Raster fällt
Die Sozialdemokratie muss sich zum Ziel setzen, würdevolle Teilhabe durch Arbeit auch für diejenigen zu schaffen, die alleine keinen Anschluss im Arbeitsleben finden können. Statt Menschen voreilig als arbeitsunfähig zu behandeln, fordern wir einen Ausbau effektiver Programme zur Arbeitsmarktintegration – gerade für die bis zu 300.000 Langzeitarbeitslosen, an denen auch neue Einstiegsmöglichkeiten durch konjunkturbedingten Jobboom leider vorbeigehen – aufgrund des Fehlens einer Berufsausbildung sowie gesundheitlicher Einschränkungen oder einem höheren Lebensalter (über 50).
Für Menschen, die nach einer (auch längeren) Einarbeitungs- bzw. Qualifikationsphase wieder in den regulären Arbeitsmarkt integriert werden können, sollte der Passiv-Aktiv-Transfer in einem festen Zeitrahmen für die aktuell noch zuständigen Jobcenter ermöglicht werden: Dafür müssen gemeinsam mit Arbeitgeber*innen Arbeitsstellen geschaffen werden, für die anfangs die Versorgungskosten der Grundversorgung vollständig als Gehaltszuschuss gezahlt werden. Dieser Zuschuss muss auf der Stelle jedoch auslaufen mit dem glaubhaften Ziel, Menschen in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu überführen. Im Bundeshaushalt sollte ein regulärer Haushaltstitel für Aktiv-Passiv-Transfer gebildet werden, um einen Überblick über Einsparungen für die Zukunft und temporäre Mehrausgaben zu bekommen.
Für Menschen, die aufgrund von Erkrankungen, Beeinträchtigungen o.ä. nicht kurz- oder mittelfristig auf dem regulären Arbeitsmarkt Anschluss finden können, braucht es die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarkts. Auf diesem sollte ein solidarisches Grundeinkommen gezahlt werden, das tarifvertraglich ausgehandelt und sozialversicherungspflichtig ist (zudem auch für Familien/Bedarfsgemeinschaften deutlich über Grundsicherungsniveau). Hierfür sind zusätzliche, langfristig ausgerichtete, arbeitsmarktnahe und sinnstiftende Stellen einzurichten, die gemeinnützige Ziele verfolgen und nicht mit Leistungen in Konkurrenz stehen, die bisher privatwirtschaftlich erbracht werden. Folgende Felder bieten sich hier besonders an, in denen sich z.T. trotzdem eine anteilige Kostendeckung erwirtschaften lässt: Öffentlicher Concierge-Services für Wohnsiedlungen, Wäsche-Hol-und-Bring-Dienste, haushaltsnahe Dienstleistungen wie Einkaufshilfen für Ältere und Menschen mit Behinderungen, andere soziale Zusatzangebote für die Alten-, Pflege- und Jugendarbeit, Zusatzangebote für Schulen und (Sport-)Vereine, die Mitarbeit im Quartiersmanagement, die Betreuung von Arbeitsgemeinschaften oder andere Bürger*innenarbeit, die ehrenamtlich schwer zu leisten ist (z.B. Hilfe in Kirchenarchiven und -bibliotheken oder zusätzliche kulturelle Angebote).
Für die Akzeptanz dieses neuen sozialen Arbeitsmarktes ist entscheidend, dass die Tarifparteien sowie andere Akteur*innen (z.B. Wohlfahrtsverbände und IHKen) in regionalen Beiräten über die richtigen Einsatzfelder der öffentlich geförderten Beschäftigung entscheiden. Familien ohne Erwerbseinkommen sollten bei der Vergabe der Stellen bevorzugt behandelt werden, weil hier das Armutsrisiko am höchsten ist.
[1] Hier sind in chronologischer Reihenfolge folge Ereignisse zu nennen, die alle aus unterschiedlichen Macht- und Regierungskonstellationen der Sozialdemokratie resultierten: Kriegskredite/Burgenfriedenspolitik im Ersten Weltkrieg, Noskes Paktieren mit Reichswehr gegen Liebknecht und Luxemburg, zu viel rechtstaatliche Zurückhaltung gegenüber den Nazis und Rechten in der Weimarer Republik, Abwendung vom Profil der historisch-marxistischen Arbeiterpartei in zum pluraleren Volkspartei-Konzept, erste Große Koalition und Notstandsgesetze, Berufsverbote im öffentlichen Dienst – um die Wesentlichen zu nennen.
[2] „Neue Mitte“ ist ein eigentlich aus der Brandt-Zeit stammender SPD-Slogan, der aber zur deutschen Catchphrase vom „New Labour“ wurde.
[3] „[A]b Ende der 1990er Jahre [war] ein anderer Gegner auf der politischen Agenda erschienen: der homo oeconomicus des Neoliberalismus. Dessen Hegemonie entfaltete sich zu einer Zeit, als die rot-grüne Koalition 1998 die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Ihre angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die ihr zuzuordnende Steuergesetzgebung und Reformen des Arbeitsmarktes zeigen unübersehbar Einflüsse des neoliberalen Menschenbildes.“ (Grebing, Helga/Saage, Richard, 2013: Sozialdemokratie und Menschenbild. URL: http://www.bpb.de/apuz/166642/sozialdemokratie-und-menschenbild, abgerufen am 3.5.2018)
[4] Wie die Figur des Homo Oeconomicus nahelegt, will der Mensch seinen eigenen Nutzen maximieren und setzt sich dafür automatisch in Konkurrenz zu anderen Menschen.
[5] In dem die allermeisten Menschen nach Marx ‚doppelt frei‘ sind (von feudaler Knechtschaft und dem Besitz der Produktionsmitteln) und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.
[6] Die Tarifautonomie bezeichnet den verfassungsmäßig geschützten Sachverhalt, dass es der Staat Unternehmen und Gewerkschaften überlässt, die Entgelt- und z.B. Arbeitszeitfragen in einem gesetzlich regulierten Arbeitskampf selbstständig zu regeln.