Zeitnahe Rückkehr zur Basis

Begriffe zeichnen sich durch die Eigenschaft aus, eine bestimmte Zahl anderer Begriffe und Eigenschaften zu subsumieren, in sich zu vereinigen. Grob gesagt, aber allgemein anerkannt, haben wir uns in der Post-Godesberger Zeit dazu entschieden einen starken Fokus auf die demokratisch-sozialistischen Kernbegriffe Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu legen. Sozialistischere Forderungen wie etwa Verstaatlichungen oder Planwirtschaft wurden zugunsten des Freiheitsbegriffes zurückgestellt. Den Gedanken des starken Staates haben wir zugunsten eines freiheitlich-demokratischen Deutschlands mit starken Säulen wie dem Streikrecht oder der Chancengleichheit verworfen. Eine gute Entscheidung, die die SPD beinahe zu einer liberalen Partei gemacht hat, die sich aber, und das ist wichtig, durch den Solidaritätsbegriff (in Form der eben kurz angerissenen Forderungen) doch deutlich von einem neoliberalen Menschen- und Staatsbild unterscheidet.

Diese hier in wenigen Sätzen umrissene Entwicklung und Positionierungshistorie unserer Partei ist sicherlich den meisten Genossinnen und Genossen bekannt und möglicherweise sogar ein Grund für den Beitritt in die SPD. Sie scheint aber, und das wird immer deutlicher, den Führungspersonen dieser, unserer Partei auf Bundesebene nicht, oder nicht mehr, bekannt zu sein. Entwicklungen wie das Tarifeinheitsgesetz, die Vorratsdatenspeicherung (VDS), oder auch Äußerungen zur Griechenlandkrise, zeigen deutlich eine innerliche Abkehr von den Kernbegriffen der Sozialdemokratie. [1] Ob das, was momentan umgesetzt wird, gerecht ist, ist schwierig zu beurteilen. Freiheitlich und solidarisch ist es auf keinen Fall. Eine solche Ausdehnung geben selbst diese beiden weiten Begriffe nicht her. Und wenn Sigmar Gabriel nach dem Parteikonvent im Juni 2015 davon spricht, dass es keine Freiheit ohne Sicherheit gäbe, legt das erschreckend nahe, wie wenig der Parteivorsitzende seinen eigenen Programmsatz verstanden hat.

Dies wollen wir näher ausführen. Wir empfanden in den vergangenen Wochen und Monaten wenig Begeisterung darüber, dass sich die sozialdemokratische Partei Deutschlands trotz vieler Debatten, die zu einem anderen Ergebnis gekommen sind, für eine Vorratsdatenspeicherung eingesetzt hat. Wir können dies leider nicht verstehen, weil wir in diesem Instrument der sogenannten “Terrorismusbekämpfung” keinen Zweck für die Allgemeinheit sehen. Eher im Gegenteil! Vorratsdatenspeicherung verhindert keine Gewalt, sondern ist ein Aktionismus, der gezielt die Angst der Bürgerinnen und Bürger mit den abgedroschenen Schlagwörtern “Terrorismusbekämpfung”, “Vereitelung von Anschlägen” und “Terrorgefahr” ausnutzt.

Der Staat hat keinen Anspruch darauf in jeden Bereich seiner Einwohner und Einwohnerinnen, Bürgerinnen und Bürger einzugreifen und einzusehen. Dies wäre jedoch die Konsequenz aus der Vorratsdatenspeicherung.

Es ist bedauerlich zu sehen, dass bei der Begründung für eine Notwendigkeit der VDS auf einfache Stammtischparolen zurückgegriffen wird. So wird beispielsweise in dem Hintergrundpapier der SPD argumentiert, dass „mit „Handydaten“ Mörder überführt werden können“.  Dies ist billige Effekthascherei, auf die eine selbstbewusste SPD nicht zurückgreifen darf. Mit derart fadenscheinigen Argumenten, die leicht zu durchschauen sind, wird Sand, der in die Augen der Bürgerinnen und Bürger gestreut wird, als das erkannt, was er ist: Aktionismus, der als Ablenkung dient und ebenso als Mutlosigkeit, die Wahrheit zu sagen. Wir fragen kritisch und direkt nach, ob die entscheidenden Politiker verstanden haben, welche Rückschlüsse die überwachten Daten auf den „gläsernen Bürger“ zulassen.

Natürlich verstehen wir, dass die Balance zwischen individuellen Freiheitsrechten und Schutzaufgabe des Staates ein zerbrechliches Gefüge ist, das ständig auf der Kippe steht und den aktuellen Bedürfnissen angepasst werden muss. Jedoch wird der Bogen überspannt! Es gibt sehr viele Argumente, die gegen Überwachung sprechen, dabei lassen wir die offensichtlichsten Argumente außer Acht, die in letzter Zeit bereits ausführlich in der Öffentlichkeit dargelegt wurden. Beispielsweise, dass Attentate durch Vorratsdatenspeicherung nicht erfolgreich verhindert werden, geschweige denn  aufgeklärt.

Was wir uns wünschen ist ein Schutz der Rechte der Einwohner dieses Landes. Private Anbieter müssen daran gehindert werden, Einfluss auf zu viele (Meta-)Daten zu erhalten. Der Schutz der Bürger ist es, wofür wir kämpfen sollen und wofür wir kämpfen müssen. Anstelle eines generellen Verdachts und einer vorsorgliche Überwachung müssen wir die Einwohner des Landes zu schützen, sei es gegen Staat oder gegen Konzerne. Wir Jusos hoffen darauf, dass die Idee der Vorratsdatenspeicherung schnell dahin verschwindet wo sie hingehört: in den Aktenvernichter der Geschichte.

All diese stellvertretend genannten Entwicklungen sind aber nur Symptome eines tieferliegenden Problems. Die SPD steckt seit der verlorenen Bundestagswahl 2005 in einer schweren Krise und seit 2013 in der zweiten Großen Koalition innerhalb einer Dekade – degradiert zur Schleppenträgerin einer Bundeskanzlerin, die eher bemüht ist die Themen Freiheit (Snowden), Gerechtigkeit (s. oben) und Solidarität (Griechenland) unter einem Mantel des Schweigens zu verdecken. Während die Union für ihr Verständnis erstaunlich soziale Gesetze verabschiedet, arbeitet unsere Parteiführung an Vorratsdatenspeicherung und Tarifeinheitsgesetz. Wie wird die politische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland wohl aussehen, wenn Angela Merkel Sigmar Gabriel links überholt hat?

Wer in eine große Koalition geht, hat keine Wahl gewonnen; schon gar nicht, wenn er der schwache Partner ist. Peer Steinbrück ist der einzige Spitzenfunktionär des vergangenen Jahrzehnts gewesen, der das erkannt hat und für eine Niederlage der SPD geradestand. Die meisten anderen Führungspersonen unserer Partei, allen voran Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Andrea Nahles sind in irgendeiner Form seit 2005, seit drei grandios verlorenen Wahlen, dabei, ohne jemals eine Konsequenz gezogen zu haben. Die knappe Entscheidung des Parteikonventes im Juni diesen Jahres bestätigt zum einen eine große Skepsis gegenüber der jetzigen Linie und Führung und gleichzeitig, dass das Problem nicht nur ganz oben, sondern auch in der mittleren Funktionärseben zu liegen scheint.

[1]http://www.spd.de/linkableblob/129152/data/20150528_verkehrsdatenspeicherung.pdf