Arbeitest du noch oder lebst du schon? Wir brauchen eine Reorganisation der Lebensarbeitszeit

Situationsbeschreibung

Heute leben wir in einer immer komplexer werdenden Welt, die auch die Welt jedes einzelnen Verändert. Die Wirtschaft und die Arbeitswelt ist einem ständigen Wandel unterworfen, der neue Probleme aufwirft. So wird heute vermehrt Druck durch Gesellschaft und Medien auf den Einzelnen ausgeübt erfolgreich zu sein, eine Familie zu gründen und eine feste Arbeitsstelle zu bekommen, wenn möglich privat für seine Rente vorzusorgen und möglichst lange fit und agil zu bleiben um bis zu seinem 65. Lebensjahr zu Arbeiten bzw. 45 Jahre in die Rentenversicherung einzuzahlen. Einem Dreißigjährigen mit einem befristeten Arbeitsvertrag und seiner Partnerin mit einem Minioder Ein-Euro-Job kann man verantwortungsvollerweise jedoch nicht noch zumuten, zwei oder drei Kinder zu bekommen obwohl gerade junge Menschen von den Medien und der Gesellschaft propagiert bekommen, Deutschland überaltere und man müsse mehr Kinder bekommen. Diese Vielzahl an gesellschaftlich verordneten Aufgaben ist immer schwerer zu erreichen auch wegen immer stärker werdender wirtschaftlicher Unsicherheiten für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin steigt, wir leben in Zeiten in denen die zeitlich begrenzte und atypische Beschäftigung gerade für junge Arbeitnehmer
immer weiter steigt. So ist in der Altersgruppe der 15 bis unter 20 jährigen der Anteil befristet Beschäftigter auf 40,7% besonders hoch, in der Altersgruppe der 20 bis unter 25 jährigen arbeitete gut jeder Vierte mit befristetem Vertrag. Bei Beschäftigten ab etwa dem dreißigsten Lebensjahr geht der Anteil zeitlich begrenzter Beschäftigungen merklich zurück. Trotzdem betrug er für die 30 bis unter 40 jährigen noch 9,3% und bei 40 bis unter 50 jährigen noch 6,1%. Bei den 50 Jahre und älteren arbeiteten schließlich nur noch etwa jeder Zwanzigste (4,7%) mit zeitlich begrenztem Vertrag. Die Befristete Beschäftigung bzw. gebrochenen Erwerbsbiografie erschweren es für den jungen Menschen Planungssicherheit zubekommen und neben der (propagierten) eigenen Vorsorge auch
noch eine Familie zu gründen. So wirkt sich der weiter steigende Anteil von befristeter Beschäftigung so unteranderem auch direkt auf die Familiengründung bzw. die Eheschließung aus, so war in den 1970ern die Geburtshäufigkeit der Frauen in der Altersgruppe 25- 29 Jahre besonders hoch. Ab 2002 wurde diese Altersgruppe von den Frauen der Altersgruppe 30- bis 34 Jahre abgelöst, sodass sich die Geburtshäufig bezogen auf das Alter der Frauen seit dem um mehr als 5 Jahre verändert hat.2 Hinzu kommt ein sich immer stärker an Projekten und Kampagnen orientierender Arbeitsmarkt, sodass Arbeitnehmer verstärkt für einzelne Projekte/Kampagnen eingestellt werden und sich so die Planungsunsicherheit was die eigene Zukunft und die Familie angeht aber auch die eigene
Vorsorgemöglichkeit aufgrund der drohenden baldigen Arbeitslosigkeit weiter forciert. Bei gesellschaftlich geforderter und unterstützter Individualisierung und Flexibilisierung auf der einen Seite, wurden die Risiken einzelner Lebensentscheidungen zunehmend Privatisiert und können höchstens in diesem Rahmen noch abgedeckt werden. Wir JungsozialistInnen jedoch wissen, Freiheit kann nur bei gleichzeitiger solidarischer Sicherheit existieren. Die freiheitliche und individuelle Verfügung über die eigene Lebenszeit ist eine hoch emanzipatorische Errungenschaft, die es zu bewahren und verteidigen gilt.

Lösungsmöglichkeiten

Bisher haben wir nur bruchstückhafte Antworten auf diese Fragen. Ein Gesamtkonzept zur Integration der unterschiedlichen Lebensphasen in die Erwerbsbiografie gibt es nicht. Es ist jedoch wichtig, an ganzheitlichen Lösungen zu arbeiten. Arbeitsmarktpolitik, Bildungs- und Weiterbildungspolitik,
Familienpolitik und Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, all diese Bereich werden von der Umstellung auf eine emanzipatorische und würdige Erwerbsbiographie tangiert. Ein ganzheitliches Konzept der Organisation von Lebensarbeitszeit darf nicht in einzelnen politischen Ressorts verhaftet bleiben, sondern erfordert das Ineinandergreifen der Maßnahmen. Dabei gehören zu einer Diskussion über die individualisierte und emanzipierte Gestaltung von Lebensarbeitszeit keinesfalls nur die Instrumente, die unmittelbar die Organisation von Brüchen in Erwerbsbiografien betreffen. Sowohl bei den Jusos als auch innerhalb der SPD muss diese Diskussion nun erneut geführt werden. Dabei ist es wichtig, nicht nur über Arbeits-, sondern auch über Lebenszeit zu sprechen. Wenn wir die Debatte über Lebensarbeitszeit führen, dürfen wir auch keine Angst haben, verbrannt geglaubte Begriffe wie Erwerbstätigenversicherung und Arbeitszeitverkürzung
wieder aufs Tableau zu heben.

Einzelne Aspekte

»»Zeitgestaltung
Um die Zeithoheit in der Arbeitswelt wird mittels der verschiedensten Modelle gerungen. Vielversprechend zeichnen sich zur Zeit Modelle der Lebensarbeitszeitkonten ab. Momentan werden unterschiedliche Kontenmodelle noch hauptsächlich als eine Möglichkeit der alternativen Gestaltung eines flexiblen Einstiegs in den Ruhestand diskutiert. Dabei bieten Langzeitkonten oder Zeitwertkonten weit mehr Möglichkeiten der lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung. Phasen der Kindererziehung, der Pflege, der beruflichen Neuorientierung oder der Regeneration können mittels der Konten flexibel und individuell mit der Berufstätigkeit vereinbart werden. Entsprechende Modell haben sich gerade in der Finanzkrise bewährt und konnten einige ArbeitnehmerInnen vor Entlassungen bewahren. Was in vielen Betrieben bereits als Überstundenausgleich durch Freizeit funktioniert, wird durch die Lebensarbeitszeitkonten lediglich in seinem Prinzip über den Monat oder das Kalenderjahr hinaus auf die gesamte Erwerbsbiografie ausgedehnt. So kann der Arbeitsumfang unterschiedlichen Lebensphasen angepasst werden. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen zur Nutzung dieser Langzeitkonten existieren – wenn
auch verbesserungswürdig – bereits. Jedoch werden die Konten bisher nur von 7 Prozent der Unternehmen angeboten und von 18 Prozent der Beschäftigten genutzt. Das kann zum Einen an den vielen noch ungelösten Problemen auf der Seite der ArbeitgeberInnen liegen, zum Anderen aber sicherlich auch an der geringen Durchsetzungsmöglichkeiten der ArbeitnehmerInnen bei der tarifpolitischen Verhandlung dieser Konten. Dass die individuellen Probleme
bei der Vereinbarkeit von Arbeit und Lebensphasen durch ein kollektiv geltendes Instrument gelöst werden könnten, ist in den Betrieben bisher nicht auf offene Ohren gestoßen. Bisher wird sich meist weiterhin auf Einzelfalllösungen verlassen. Eine Neuorientierung der Arbeitszeitgestaltung ist gerade für die Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt von besonderer Bedeutung. Häufig sind Frauen die leittragenden, von fehlender Flexibilität auf der
einen und falschverstandener Anwesenheitskultur auf der anderen Seite, bei der nur der- bzw. diejenige Karrierechancen bekommt, die/der früh kommt, spät geht und auf jedem Meeting oder Sommerfest dabei ist.

»»Eltern- und Pflegezeit
Bei der Debatte um die Deutungshoheit über die Verteilung der eigenen Arbeitszeit müssen auch die Einarbeitung von Eltern- und Pflegezeiten in eine Erwerbsbiographie besser ausgestaltet werden und integrierbar bleiben. Wir benötigen rechtliche Rahmenbedingungen und Sicherheiten, damit nur als kurzfristige Lösungen gedachtes, berufliches Ausscheiden nicht zum Dauerzustand und damit zur Falle wird. Die Anzahl der Plätze Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen müssen deutlich erhöht werden. Dass sich Menschen aus ihrem Beruf und sonstigen Leben komplett zurückziehen müssen, um die dauerhafte Pflege eines Angehörigen zu übernehmen kann nicht unser Ziel sein. Dort wird deutlich mehr Unterstützung gebraucht. Die Professionalisierung der Pflege und Pflegeberufe spielt dabei eine wichtige Rolle. Die „Generation der pflegenden Töchter“ kann keine sozialdemokratische Antwort auf die sich stellenden
Herausforderungen einer alternden Gesellschaft sein.

»»Lebenslanges Lernen
Wir Jusos wissen, dass Bildung und Weiterbildung der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben und erfolgreichen Berufseinstieg und –verbleib ist. Deshalb ist Lebenslanges Lernen ein wichtiger Baustein eines erfolgreichen Lebensarbeitszeitkonzeptes. Bei der Weiterbildung hackt es jedoch bisher an einigen Stellen. Ob beruflich oder schulisch, Informationen über unterschiedliche Träger müssen von unterschiedlichen Orten zusammengetragen werden. Es gibt zur
Zeit keine zentrale Weiterbildungsstelle, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aber bspw. auch Auszubildenden, Studierenden oder Arbeitslosen gemeinsam Auskünfte über Weiterbildungsmöglichkeiten sowie Finanzierungsmöglichkeiten bietet. Zu einer sinnvollen Integrierung der verschiedenen Angebote benötigen wir eine solche Vernetzung bisheriger Strukturen.

»»Arbeits- und Gesundheitsschutz
Im Sinne des Gesundheitsschutzes benötigen wir Modelle, die neben der flexiblen Zeitgestaltung auch inhaltliche Flexibilität ermöglichen. Nicht jeder ältere Arbeitnehmer kann noch schwer heben oder tragen. Er oder sie kann jedoch unter Umständen die Ausbildung und Einarbeitung von neuen MitarbeiterInnen betreuen. Neben der rein quantitativen Anpassung von Arbeitszeit an die Erfordernisse älterer ArbeitnehmerInnenmuss vermehrt auch auf deren qualitative
Arbeitsplatzgestaltung geachtet werden und mehr Flexibilität bei der genauen Arbeitsaufgabe möglich sein. Entscheidender, als die genaue Jahreszahl, mit der Menschen in Rente gehen, muss es unser Ziel sein, Menschen möglichst lange gesund und vital zu halten.

»»Altersteilzeitmodelle
Wir fordern die Beibehaltung und Weiterentwicklung der bisherigen Altersteilzeitmodelle. Wichtig ist es hierbei darauf zu achten, dass diese die Betroffenen nicht vor neue Belastungen stellen darf, wie etwa die Rente mit 67, die unter den gegebenen Umständen faktisch rentenmindernd wirkt. Auch die psychischen Belastungen, die ein plötzlicher Renteneintritt, nach Jahrzehnten des Vollzeit-Schuftens und Überstundenaufbaus hervorrufen kann, muss bei der Konzeption neuer Renteneintrittsmodelle berücksichtigt werden.

»»Rente
Es wird die Arbeit des Handwerkers, der Lebenslang auf der Baustelle gearbeitet hat mit Büroarbeit oder anderer geistiger Arbeit gleichgesetzt obwohl beide vollkommen unterschiedlich sind und in ihrer Form nicht vergleichbar. Zudem bestraft Verrentung in Zeiten von propagiertem Fachkräftemangel , den/die Einzelne/n, die/der sich körperlich und geistig noch ausreichend in der Lage sieht zumindest teilweise weiterzuarbeiten und nicht zwangsläufig nach 45
Beitragsjahren in den Ruhestand geschickt werden möchte. Daher fordert wir eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters, dass sich nicht an dem Alter der betreffenden Person fest macht, sondern an den Beitragsjahren und an der Leistungsfähigkeit des/der Einzelnen. Die Debatte um Zeitverteilung, Zeitgestaltung und Zeithoheit ist eine hochpolitische, der es sich mutig zu stellen gilt. Wir Jusos müssen uns den veränderten Anforderungen, die durch Flexibilisierung
oder dem Anspruch an Lebenslanges Lernen an Erwerbsbiographien herangetragen wird nicht verschließen. Im Gegenteil brauchen wir eine neue und ehrliche Debatte darum, wie diesen Anforderungen begegnet werden kann und können und sollten diese bisher unbeantwortete Frage nutzen, um die aufkommenden Fragen „wie wollen wir arbeiten“ in einem jungsozialistischen Sinne zu beantworten. Klar ist, bei einer ersten Feldvermessung dürfen wir nicht stehen bleiben.
Auftrag muss nun sein, Instrumente innerhalb der einzelnen Themenfelder und Lebensabschnitte zu entwickeln.