Den Wandel des Arbeitens bewusst entwickeln

Thesen für eine fortschrittliche Politik für und mit arbeitenden Menschen

T1: Es gibt keine zufriedenstellende sozialdemokratische Antwort auf die Fragen der Gegenwart.

Totgesagte leben länger; das gilt auch für die menschliche Geschichte. In der gegenwärtigen Situation geschehen enorme historische Entwicklungen. Globalisierung, Individualisierung und Digitalisierung werden von den Menschen als prägende Elemente ihres Lebens empfunden. Als treibende Kraft hinter diesen Entwicklungen wird die Durchsetzung des Neoliberalismus gesehen. Daraus ergibt sich das Bedürfnis, sich mit dem Neoliberalismus auseinanderzusetzen und ihn zu kritisieren. Die häufig gezogene Schlussfolgerung ist dann die Forderung, sich den beschriebenen Entwicklungen entgegenzustemmen, oder sie wenigstens in ihrer Wirkweise umzuformen. Dabei werden häufig nur die negativen Folgen, wie bspw. eine zunehmende Entfremdung, in den Blick genommen. Und tatsächlich haben diese Entwicklungen viele negative Folgen für die Menschen. Die Beschäftigten sehen sich im Rahmen ihrer Arbeitstätigkeit einem zunehmenden Leistungsdruck ausgesetzt, der Eindruck, in einer sich immer schneller fortbewegenden Gesellschaft zu leben, nimmt zu. Und viele von uns fühlen sich trotz Internet und globaler Kommunikation anderen Menschen gegenüber fremder als je zuvor. Es hat viele Versuche gegeben, diese tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklungen als Trends der Gegenwart zu erklären und einen politischen Umgang mit ihnen zu finden. Woran es bislang aber fehlt, ist eine sozialdemokratische Antwort auf die Fragen der Gegenwart, die den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht bloß hinterherläuft und sie im Nachhinein zu verstehen versucht. Die gegenwärtigen Entwicklungen werfen Fragen auf, die einer sozialdemokratischen Antwort bedürfen, die die Gegenwart unter ihren geschichtlichen Vorzeichen begreift und eine politische Perspektive für die zukünftigen Entwicklungen aufzeigt.

Die nachfolgenden Thesen stellen den Versuch einer Diskussionsgrundlage für eine solche Antwort dar. Sie sind keine fertige Antwort, sondern (vorläufige) Thesen, die Ausgangspunkt für eine Diskussion um eine Antwort auf die aufgeworfenen Fragen sein sollen. Unsere Art und

Weise zu arbeiten prägt die Gesellschaft, in der wir leben und stellt ihre Grundlage dar. Wollen wir die Gegenwart verstehen, müssen wir uns mit unserer derzeitigen Art und Weise des Arbeitens auseinandersetzen – das ist eine der Grundvoraussetzungen der nachfolgenden Thesen. Eine weitere Grundvoraussetzung ist die Annahme, dass der Wandel des Arbeitens, den wir derzeit beobachten können, der Grund für eine Vielzahl gesellschaftlicher Entwicklungen ist. Nur, wenn wir uns mit dem Wandel des Arbeitens auseinandersetzen, werden wir die Arbeit der Gegenwart begreifen und nur so die gegenwärtigen Entwicklungen verstehen. Dieser Anforderung möchten die folgenden Thesen entsprechen und daher einen Diskussionsbeitrag zur Debatte um die Arbeit der Gegenwart leisten.

 

T2: Ab der Mitte des 20. Jhdts. beginnen die Beschäftigten eine neue produktive Kraft zu entwickeln.

Die aktuellen Entwicklungen finden ihren jüngsten Ausgang in einer Neuorganisation der Arbeit, die Mitte des 20. Jahrhunderts begann. Damals standen Unternehmen im Silicon Valley vor dem Problem, technische Innovationen produzieren zu müssen, von denen niemand wusste, wie sie auszusehen hatten. Die Beschäftigten sollten technologische Produkte in Richtung auf Computer und Internet erfinden. Die Unternehmen waren aber nicht in der Lage, ihren Beschäftigen Anweisungen zu geben, wie und was sie erarbeiten sollten – das gewünschte Produkt war schließlich den Vorgesetzten selbst ebenso unbekannt wie den Beschäftigten. Um mit diesem Problem umgehen zu können, begannen die Beschäftigten, sich nicht mehr einzeln, sondern in Teams Gedanken zu machen, wie sie die benötigten Produkte entwickeln könnten. Aus dieser spontanen Teamarbeit heraus erwuchs nach und nach eine Arbeitsform, in der die Beschäftigten in Teams zusammenarbeiteten und sich dabei nicht nur Gedanken darüber machten, welche Innovationen oder Produkte sich ausdenken ließen, sondern unbewusst auch darüber, wie sie am besten zusammenarbeiten sollten, um möglichst viele Innovationen hervorzubringen. Die Unfähigkeit der Unternehmen und Vorgesetzten, den Beschäftigten direkte Anweisungen zu erteilen, führte also dazu, dass die Beschäftigten begannen, sich selber Gedanken über ihre Arbeitstätigkeit zu machen, sowie darüber, was und wie sie gemeinsam produzieren sollten, und möglichst produktive Formen der Zusammenarbeit zu erarbeiten. Diese Form des Arbeitens in Teams erwies sich bald als eine überaus produktive. Aus der Not der Unternehmen, Produkte entwickeln zu müssen, von denen noch niemand eine Vorstellung hatte, haben die Beschäftigten also eine neue produktive Kraft entwickelt. Sie hatten eine neue Fähigkeit entwickelt, durch die Reflexion über ihre eigene Arbeit mit möglichst wenig Kraft- und Zeitaufwand eine größtmögliche Menge gesellschaftlichen Reichtums zu produzieren.

 

T3: Die neue Arbeitsform der Beschäftigten setzte sich bald als produktivere durch.

Ausgehend von der erfolgreichen Arbeit in Teams im Silicon Valley verbreitete sich diese neue Form der Arbeitsorganisation rasch. Die Unternehmen erkannten nach und nach, dass die Beschäftigten wesentlich produktiver arbeiteten, wenn sie keine direkten Weisungen durch ihre Vorgesetzten erhielten, sondern sich selber mit dem Sinn und der Organisation ihrer Arbeit auseinandersetzten. Hatten einmal einige Unternehmen die neue Form der Arbeitsorganisation etabliert, waren die anderen Unternehmen gezwungen, dem Beispiel zu folgen, wollten sie nicht hinter der erfolgreicheren Konkurrenz zurückbleiben. Die neue produktive Kraft der Beschäftigten zwang die Unternehmen so dazu, sich an sie anzupassen.

Mit der Durchsetzung der neuen Form der Arbeitsorganisation sahen die Unternehmen sich vor der Frage, wie sie sie möglichst profitabel für ihren unternehmerischen Zweck, den Gewinn von Profit, nutzen konnten. Aus dem Versuch, auf diese Frage eine Antwort zu finden, entwickelte sich ab den 90er-Jahren ein ganzer Wirtschaftszweig, die Unternehmensberatung. Zweck der Unternehmensberatung war und ist es, den Unternehmen eine Antwort darauf zu geben, wie sie die neue produktive Kraft der in Teams zusammenarbeitenden Beschäftigten möglichst profitabel für ihre Zwecke einsetzen können.

 

T4: Die Unternehmen nutzen die indirekte Steuerung, um die produktive Kraft der Beschäftigten in ihre eigenen Bahnen zu lenken.

Die Unternehmensberatungen präsentierten den Unternehmen als Antwort Konzepte, die als die Theorie der „indirekten Steuerung“ bezeichnet werden. Bei der indirekten Steuerung nehmen sich die Unternehmer*innen in ihrer Rolle als direkte Weisungsgeber*innen zurück. Sie üben das durch den Arbeitsvertrag ihnen zustehende Recht, den Beschäftigten genaue Anweisungen über die von ihnen zu verrichtenden Tätigkeiten erteilen zu können (Direktionsrecht), nicht aus. Stattdessen beschränken sie sich darauf, den Beschäftigten Rahmenbedingungen für ihre Arbeit vorzugeben. Diese Rahmenbedingungen werden auch als Umwelt bezeichnet. Die Unternehmen fassen ihre Beschäftigten z.B. in Teams von

durchschnittlich ca. 8 Beschäftigten zusammen (manchmal nach sehr naheliegenden Kriterien, manchmal scheinbar willkürlich) und setzen diese Teams in eine Umwelt. Diese Umwelt besteht bspw. aus der Menge der Produkte, die ein Team im Zeitraum einer Woche zu produzieren hat, oder der Anzahl an Kund*innenkontakten, die die Beschäftigten einer Bank pro Tag zu erledigen haben. Sie kann weiter bestehen aus Arbeitsbedingungen, oder aus Beziehungen zu anderen Einheiten desselben oder eines anderen Unternehmens, die die Beschäftigten bei ihrer Arbeit eingehen müssen.

Die Zusammenarbeit der Teams in einem Unternehmen ist dabei von zwei entgegengesetzten Tendenzen bestimmt. Zum einen arbeiten die Mitglieder eines Teams zusammen, sie kooperieren also miteinander und versuchen, ihre Funktion für das Unternehmensinteresse möglichst gut zu erfüllen. Dabei arbeiten sie auch mit anderen Teams zusammen. Diese Beziehungen werden jedoch durch die indirekte Steuerung unter Druck gesetzt, indem jedes Team seine Ziele verfolgt, ohne zu berücksichtigen, was das für die Kolleg*innen in anderen Teams bedeutet. In einem Unternehmen, das Autos herstellt, gibt es bspw. ein Team, das für den Kund*innen-Kontakt zuständig ist, Bestellungen entgegennimmt und sie an ein Team in der Produktion weiterleitet. Um seine eigenen Leistungsziele zu erfüllen, verspricht das erste Team den Kund*innen häufig völlig unrealistische Ausliefertermine, die von der Produktion überhaupt nicht einzuhalten sind. Entsprechend unter Druck gesetzt, werden die in der Produktion tätigen Teams ihr Bestes geben, die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen. Dadurch setzen sie wiederum die Teams, die für die Zulieferung von Einzelteilen oder für die Lagerung der Halbprodukte zuständig sind, unter Druck. An diese Teams wird nun die Anforderung gestellt, mit der Produktion schrittzuhalten. Neu an dieser Form der Kooperation ist, dass die Menge der zu fertigenden Produkte, der zu liefernden Teile usw. nicht mehr zentral durch die Unternehmensleitung übernommen wird. Die Unternehmensleitung überlasst diese Funktion den Teams, die ihren jeweiligen Bedarf an die anderen Teams weiterleiten; so setzen sich die Teams direkt gegenseitig unter Druck. Die Unternehmensleitung kann diesen Druck noch erhöhen, indem sie einen direkten Kund*innen-Kontakt ermöglicht. Haben die Kund*innen die Möglichkeit, direkt Kontakt zur Produktion aufzunehmen und nachzufragen, wann ihr Produkt fertig wird, erhöht das den Druck auf die Beschäftigten enorm, ohne dass er als Druck von Seiten der Unternehmensleitung erscheint. Die Unternehmensleitung nutzt so die Kooperation der Teams untereinander, um Druck auf sie zu erzeugen, der als ein von außen kommender erscheint, nicht als ein von der Unternehmensleitung gewollter. Zum anderen arbeiten die verschiedenen Teams teilweise

gegeneinander, sie konkurrieren miteinander. Ein Beispiel für Konkurrenz innerhalb eines einzigen Unternehmens ist die Konkurrenz zwischen verschiedenen Standorten. Das Unternehmens-Management gibt an die Teams an verschiedenen Standorten (bspw. Deutschland und China) dieselben Informationen: es gebe ein neues Produkt, für das ein Produktionsstandort gesucht werde. Den Zuschlag erhalte der Standort, der die Produktion für die geringsten Kosten organisieren könne. Das Management schafft so eine Umwelt, in der die Beschäftigten gezwungen werden, ihre produktive Kraft einzig für den unternehmerischen Zweck, die Senkung von Kosten und die Erhöhung des Profits einsetzen. Ähnliche Prozesse lassen sich auch innerhalb eines Teams selber beobachten. Das Management nimmt bspw. gezielt einzelne Leute aus dem Team heraus (oder lässt den Zufall für sich arbeiten, wenn einzelne Mitglieder des Teams krank werden) und schafft so eine Umwelt, in der die Teammitglieder gezwungen sind, noch effizienter zu arbeiten, da sie das gleiche Arbeitspensum mit einer Person weniger bewältigen müssen.

 

T5:  Durch die indirekte Steuerung schränken die Unternehmensleitungen die produktive Kraft der Beschäftigten ein auf den unternehmerischen Zweck: den Profit zu  erhöhen.

Die indirekte Steuerung schafft eine Umwelt, aufgrund deren die Beschäftigten sich in ihren Teams erarbeiten, was sie zu tun haben. Durch die indirekte Steuerung kontrolliert die Unternehmensleitung also nicht unmittelbar die Beschäftigten, sondern ihre Beziehungen, und damit mittelbar, was die Beschäftigten tun. Dadurch werden die Beziehungen der Beschäftigten untereinander mit dem unternehmerischen Zweck, Gewinne zu machen, belastet. Dies ist möglich, da die Beziehungen der Beschäftigten eines kapitalistischen Unternehmens dadurch zustande kommen, dass die Unternehmen die Arbeitskraft der Beschäftigten kaufen und sie kombinieren, d.h. die Beschäftigten zusammenbringen. Auf diese Weise gehören die Beziehungen der Beschäftigten untereinander zunächst den Unternehmen und sind von ihnen bestimmt.

An sich würde die Auseinandersetzung der Beschäftigten mit der gemeinsamen Arbeitstätigkeit verschiedene Gesichtspunkte umfassen, so etwa ökologische und Gender-Gesichtspunkte sowie soziale und ökonomische Aspekte. Von diesen verschiedenen Gesichtspunkten ist für das Unternehmen in aller Regel aber nur der des größtmöglichen Profits von Interesse. Die Unternehmensleitungen nutzen also die Formen indirekter Steuerung dazu, die Auseinandersetzung der Beschäftigten mit ihrer Arbeitstätigkeit auf den Zweck des kapitalistischen Unternehmens einzuschränken: die Gewinnmaximierung.

T6: Die indirekte Steuerung belastet die Beschäftigten enorm und führt häufig zu Stress und Burnout.

Die indirekte Steuerung durch die Unternehmensleitungen nutzt die Unbewusstheit der sozialen Beziehungen der Beschäftigten dazu, um mittelbar zu kontrollieren, wie sich die Beschäftigten verhalten. Die Unbewusstheit der Beziehungen, die zugleich mittels der indirekten Steuerung unter Druck gesetzt werden, hat gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten. Bei der Arbeit in Teams müssen die Beschäftigten vielfältig miteinander interagieren und dabei auf die Individualität der einzelnen Teammitglieder eingehen. Da die Arbeitsschritte nicht mehr wie die Fließbandarbeit vereinfacht sind, werden die individuellen Eigenschaften der Teammitglieder wichtig, um als gesamtes Team den Herausforderungen, die die Unternehmensleitungen ihnen als Umwelt präsentieren, gewachsen zu sein. Häufig ist es von Vorteil, wenn es in einem Team eine Führungspersönlichkeit, eine*n Socialiser*in, ein Organisationstalent, eine abwägende und eine vorpreschende Persönlichkeit usw. gibt. Die individuellen Stärken der Teammitglieder kommen in unterschiedlichen Situationen zur Geltung und führen so dazu, dass das Team neuen, noch unbekannten Herausforderungen gewachsen ist und innovativ auf sie reagieren kann. Das macht die Stärke des Teams aus. Obwohl hier die individuellen Stärken der Menschen zur Geltung kommen und jedes Individuum für das Team wichtig ist, sind die Individuen unter der indirekten Steuerung nicht an sich wichtig. Die individuellen Eigenschaften der Beschäftigten sind nur insofern wichtig, als sie dem Profit des Unternehmens dienlich sind. Sie werden daher von den Individuen abgelöst und als Momente der Zusammenarbeit mit anderen in den Teams genutzt. Dadurch fühlen sich die Beschäftigten gezwungen, diese Eigenschaften an den Tag zu legen, damit die Zusammenarbeit optimal funktioniert. Den Beschäftigten wird in Teambuilding-Prozessen vorgespiegelt, dass sie selber in ihrer Individualität für die Unternehmen und das Team von enormer Wichtigkeit sind. Sie spüren aber, dass sie nur wichtig für den Profit des Unternehmens sind und leiden darunter.

Ebenso leiden die Beschäftigten darunter, dass die Beziehungen zwischen ihnen vom unternehmerischen Zweck belastet werden. In der Teamarbeit übernehmen die Teammitglieder gemeinsam unternehmerische Funktionen, die ihnen bisher von den Unternehmensleitungen und den Vorgesetzten abgenommen wurden. Sie bestimmen gemeinsam, was und wie sie arbeiten sollen, stellen Regeln darüber auf und setzen diese Regeln als Team gegen die Mitglieder des Teams durch. Dabei bauen die Teammitglieder

viele Beziehungen untereinander auf, die sie vorher nicht hatten. Der Arbeitsplatz und die Arbeit selbst werden so zu einem Ort, an dem soziale Beziehungen hergestellt und gepflegt werden. Allerdings sind diese Beziehungen immer schon belastet von dem Zusammenhang in dem sie entstehen, und dem Zweck, dem sie dienen: der Profitmaximierung. Allerdings sind diese Beziehungen immer schon belastet von dem Zusammenhang in dem sie entstehen, und dem Zweck, dem sie dienen: der Effizienzmaximierung und der Profitmaximierung Die Beschäftigten bauen soziale Beziehungen untereinander auf, müssen sich dabei aber darauf beschränken, diese Beziehungen zur Verfolgung des unternehmerischen Zwecks zu nutzen. Diese Einseitigkeit der Beziehung belastet die Beschäftigten stark.

Während bisher die Unternehmer*innen das Weisungsrecht gegen die Beschäftigten ausgeübt haben, fällt diese Weisung durch die Unternehmer*innen unter den Bedingungen der indirekten Steuerung weg. Es fallen aber nicht die Weisungen überhaupt weg. Diese Rolle übernehmen nur heute die Beschäftigten selber. Setzen sie als Team „Weisungen“ gegen die Teammitglieder durch, kommen die Weisungen nicht nur von einer anderen Stelle, sondern stellen sich auch als wesentlich effektiver heraus. Es ist relativ einfach, sich den übertriebenen Weisungen direkter Vorgesetzter zu widersetzen. Fordern die Vorgesetzten bspw., dass die Beschäftigten über die vertraglich vereinbarte Stundenzahl hinaus arbeiten, können sich die Beschäftigten auf den Arbeitsvertrag berufen und im Zweifelsfall den Betriebsrat einschalten. Wesentlich schwieriger sieht es aus, wenn die „Weisungen“ vom Team kommen. Zum einen widerspräche man sich selbst, wenn man sich den Weisungen widersetzte, die man als Teammitglied selber beschlossen hat (auch dann, wenn man persönlich dagegen war und gestimmt hat). Zum anderen werden die Team-Weisungen mit einem Druck durchgesetzt, den die Vorgesetzten nie erzeugen könnten. Dieser Druck ist der soziale Druck, den die Teammitglieder untereinander aufbauen. Die moralische Verpflichtung, die die Teammitglieder durch die gemeinsamen Regeln eingehen, bindet sie stärker als der Arbeitsvertrag. Und auch die Bestrafung, die die Teammitglieder erfahren, wenn sie sich den Regeln dauerhaft widersetzen, indem sie sozialen Sanktionen ausgesetzt sind, wirkt noch stärker als die Drohkraft, die von den Bestrafungsmöglichkeiten der Unternehmen ausgeht. Was den Unternehmen aber noch mehr in die Hände spielt, ist die Tatsache, dass es gegen diese Sanktionen und Drohungen kein vertragliches Mittel gibt. Gegen Gruppenzwang und soziale Sanktionen helfen Beschwerden über Vorgesetzte, juristische Hilfsmittel und (noch) der Gang zum Betriebsrat selten weiter. Gegen diesen gruppendynamischen Druck hilft es nur, ihn im Team selber zu reflektieren.

T7: Die Unternehmen haben keine Alternative.
Wir schon.

Dass die Beschäftigten unter den neuen Formen der Arbeitsorganisation leiden, liegt nicht an der neuen produktiven Kraft selber. Das Belastende an diesen neuen Formen sind vielmehr die Unbewusstheit und Unbeherrschtheit der neuen produktiven Kraft. Durch die Beschäftigung mit der eigenen Arbeit in Teams haben sich die Beschäftigten eine breite Palette neuer Möglichkeiten erschlossen. Sie können sich nicht nur Gedanken über die Profitabilität ihrer Arbeit machen. Reflektieren die Beschäftigten über Form und Sinn ihrer Arbeit, begreifen sie ihre Arbeit als gesellschaftliche. Sie können sich Gedanken machen über die Auswirkungen der Arbeit auf die Arbeitenden selber. Aber sie können sich auch Gedanken über die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Arbeit oder die Berücksichtigung von politischen und Gender-Aspekten machen. Die Forschungsabteilung in einer Chemiefabrik bspw. kann sich überlegen, ob ein Produkt, das sie erfinden will, nicht auch umweltverträglicher gestaltet werden könnte. Das für den Einkauf zuständige Team eines Kaffeeunternehmens kann sich Gedanken darüber machen, welche sozialen Folgen es für die Produzent*innen vor Ort hat, wenn sie ihnen bloß das Mindeste für deren Produkt zahlen.

All diese Überlegungen finden aber in der gegenwärtigen Arbeitswelt keinen Platz – und wenn, dann nur am Rande. Das liegt nicht daran, dass die Beschäftigten dazu nicht in der Lage wären. Zahlreiche Initiativen und Projekte zeigen, dass die Beschäftigten diese Fähigkeit längst erworben haben. Dass eine Beschäftigung mit der eigenen Arbeit häufig nur sehr einseitig, profitorientiert erfolgt, liegt an den Unternehmen. Die Unternehmen haben die neue produktive Kraft der Beschäftigten erkannt und müssen sie für sich nutzbar machen.

Die einzige Art und Weise aber, wie Produktivität sich für die Unternehmen auszahlt, ist die in Form von Profit. Eine andere Alternative haben sie nicht. Im globalen Wettstreit der Unternehmen miteinander ist die einzige Richtlinie, nach der sie sich vergleichen können, die des Profits. Ein Unternehmen, das seinen Profit nicht beständig zu erhöhen in der Lage ist, geht in der Konkurrenz unter.

Die Beschäftigten aber haben eine Alternative. Wir haben eine Alternative. Anders als die Unternehmen sind die Beschäftigten nicht an die Profitabilität ihrer Arbeit gekettet. Der Zweck ihrer Arbeit ist es, die menschliche Gesellschaft zu erhalten und fortzuentwickeln. Jede*r Beschäftigte nimmt dabei einen bestimmten Platz in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ein.

In den letzten Jahrhunderten hatten die Unternehmen die Funktion, im Rahmen der gesamtgesellschaftlichen Arbeitsteilung die Produktion unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Anforderungen an ihre jeweilige Branche möglichst ökonomisch, d. h. zugleich möglichst profitabel zu gestalten. Sie bestimmten darüber, wer wo was zu arbeiten hatte. Ihr Interesse an Profit war die ökonomische Form, durch die sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung in regelmäßig krisenhaften Prozessen „von selbst“ – wenn man so will – „regulierte“. Mittlerweile geben die Unternehmen diese Funktion mehr und mehr an die Beschäftigten ab. Die Beschäftigten lernen, selber zu erkennen, wie sie ihre Arbeitskraft gesellschaftlich sinnvoll und angemessen einsetzen können und sollen. Sie lernen, selbst ihre Arbeitskraft im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung einzusetzen und so nach und nach die gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung zu koordinieren. Die kapitalistischen Unternehmen beschränken diese Fähigkeit der Beschäftigten jedoch auf den ihnen durch die ökonomische Form vorgegebenen Zweck, die Erhöhung der Profitabilität.

T8: Wir müssen die neue produktive Kraft der Beschäftigten verstehen und die Möglichkeiten zu ihrer vollen Entfaltung schaffen.

Wenn die produktive Kraft der Beschäftigten ihnen unbewusst bleibt und daher bislang nur einseitig entwickelt wird, müssen wir dafür sorgen, dass sie in ihrer Allseitigkeit zur Geltung kommt und sich vollständig entfaltet. Bisher können die Beschäftigten ihre Fähigkeit nicht vollständig einsetzen, da sie dabei an die von den Unternehmen gesetzten Schranken stoßen. Wollen wir das gesamte Potential, das in der neuen produktiven Kraft steckt, zur Entfaltung bringen, müssen wir sie in ihrer Allseitigkeit begreifen und sie umfassend entwickeln. Wie Stephan Siemens und Martina Frenzel in ihrem Buch „Das unternehmerische Wir“ herausarbeiten, müssen wir verstehen, woher die neue produktive Kraft kommt, ihre Auswirkungen begreifen und sie zu entfalten lernen. Wir als Sozialdemokrat*innen müssen uns eingehend mit ihr und den neuen Arbeitsorganisationsformen beschäftigen und uns eine eigene theoretische Auffassung und politische Haltung dazu erarbeiten.

Wie wir lernen müssen, die neue produktive Kraft zu verstehen, müssen das auch die Beschäftigten. Längst haben sie die produktive Kraft entwickelt und die Fähigkeit, sie zu verstehen und zu entfalten, sich angeeignet. Doch müssen sie sich ihre neue Fähigkeit noch zu Bewusstsein bringen, um sie allseitig beherrschen zu lernen. Dieser Prozess kann durch staatliches Handeln gefördert werden.

 

  • So muss es betriebliche Schulungen geben, in denen die Beschäftigten in der Analyse von Teamprozessen, in Teampsychologie, in der Theorie der indirekten Steuerung usw. geschult werden, um ein Bewusstsein von den Prozessen zu gewinnen, die sich in den Unternehmen abspielen. Bildungsseminare, wie sie die Initiative „Meine Zeit ist mein Leben“ anbietet, bieten hierfür einen Anknüpfungspunkt.
  • Zu demselben Zweck muss in den Unternehmen ein Freiraum für die Beschäftigten geschaffen werden, in denen sie über die soziale und ökologische Dimension ihrer Arbeit diskutieren können. Die Beschäftigten lernen so die Allseitigkeit ihrer produktiven Kraft begreifen.
  • Ebenso muss den Beschäftigten Freiraum geschaffen werden, um sich über die Differenz zwischen der arbeitsvertraglich vereinbarten und der tatsächlich von ihnen geleisteten Arbeitszeit auszutauschen. Die Ergebnisse dieser Diskussion und Reflexion der Beschäftigten untereinander können vom Betriebsrat schließlich in die Verhandlungen mit den Unternehmen eingebracht werden.
  • Dafür muss die Verständigung über die Voraussetzungen der Teamarbeit in die zwischen Betriebsrat und Unternehmen zu treffenden Absprachen gem. § 87 Abs. 1 Nr.3 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) aufgenommen werden.
  • Als Folge der immer stärker zunehmenden Fälle von Burnout und Stress wurde die psychische Belastung am Arbeitsplatz in die Liste der Gefahren aufgenommen, gegen die die Unternehmen gem. § 5 Arbeitsschutzgesetz (ASchuG) Vorsorge zu leisten haben. Eine Kampagne des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales unter dem Slogan „Gesund zusammen arbeiten“ könnte die Beschäftigten über entsprechende Risiken am Arbeitsplatz aufklären und sie so für die belastenden Folgen der indirekten Steuerung sensibilisieren.
  • Die bislang noch übliche unterschiedliche Stellung von Leiharbeiter*innen, Werkvertrags-Beschäftigten und anderen prekär Beschäftigten gegenüber der Stammbelegschaft muss gesetzlich verboten werden. Unter den Bedingungen der indirekten Steuerung werden die vorgenannten Beschäftigten-Gruppen häufig von der Stammbelegschaft als Verursacher*innen sozial nicht beherrschbarer Tendenzen in der Dynamik der Teams angesehen und daher angefeindet. Oft wollen Beschäftigte zuverlässige und langandauernde soziale Beziehungen in ihrer gemeinsamen Arbeit und sehen nicht-reguläre Beschäftigte als störende Eingriffe in den sozialen Charakter ihrer Zusammenarbeit. Diesem Unbehagen und dem daraus entstehenden Mangel an Solidarität muss durch gesetzliche Verbote der Ungleichstellung von Beschäftigten entgegengetreten werden.
  • Die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit muss bewusst gemacht und wertgeschätzt werden. Die Beschäftigten setzen sich während des Arbeitens mit der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Arbeit auseinander. Dadurch leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Funktionieren unserer Gesellschaft. Zur Wertschätzung dieses Beitrages gehört eine der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Arbeit angemessene Bezahlung.
  • Unter der indirekten Steuerung werden Beschäftigte gegeneinander ausgespielt. Das betrifft sowohl Beschäftigte unterschiedlichen Geschlechts oder unterschiedlicher Standorte. Das betrifft aber auch Beschäftigte unterschiedlicher Generationen. Die älteren Beschäftigten weigern sich häufig, sich von Jüngeren „Anweisungen“ geben zu lassen, oder von ihnen zu lernen. Sie haben oft das Gefühl, dass die Jüngeren sie aus ihren Berufen verdrängen. Dieser Entsolidarisierung der Beschäftigten untereinander müssen wir entschieden entgegentreten Wir als Beschäftigte müssen unsere Interessen gemeinsam und solidarisch vertreten.

 

T9: Die produktive Kraft der Beschäftigten treibt über die Schranke des Profit-Strebens hinaus.

Durch die neue produktive Kraft der Beschäftigten hat sich die Produktivität der Wirtschaftsräume, in denen sich das Prinzip der indirekten Steuerung durchgesetzt hat, enorm gesteigert. Bisher konnte die neue produktive Kraft aber nur in einer beschränkten Weise genutzt werden. Sie war immer beschränkt auf das Streben nach Profit. Von den vielen Seiten, die die produktive Kraft zu bieten hat, wurde erst eine zur Geltung gebracht. Die Beschäftigten, einmal im Bewusstsein ihrer neuen Fähigkeit, wollen diese aber voll zur Geltung bringen und sie allseitig entfalten. Wo sie heute noch die Grenzen durch die Beschränkung auf das Profit-Streben spüren, wollen sie darüber hinaus. Und wo sie um die in ihnen liegenden Möglichkeiten wissen, wollen sie diese vollständig entfalten. Ihre neu erlernte Fähigkeit, die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit zu erkennen und die sozialen und ökologischen Folgen davon abschätzen zu können, will ausprobiert werden. Solange Arbeit unter der Voraussetzung des Profit-Strebens geschieht, können die Beschäftigten ihre produktive Kraft aber nicht zur Geltung bringen. Solange die Unternehmen sie in ihre Bahnen lenken, bleibt sie beschränkt. Soll die produktive Kraft voll zur Entfaltung gebracht und die produktiven Fähigkeiten der Beschäftigten vollumfänglich entwickelt werden, ist das nur möglich, wenn dies auch Zweck der Unternehmen ist – sie also nicht (oder zumindest nicht mehr in erster Linie) nach Profit streben. Die Befreiung der Beschäftigten, ihre umfassende Autonomie, macht sie gesellschaftlich produktiv, und die Unternehmen sind gefordert, den Beschäftigten den Raum, die  Bedingungen und die Möglichkeit zu bieten, ihre produktiven Kräfte zu entfalten und gemeinsam beherrschen zu lernen. Die gesellschaftlichen Kräfte unterstützen die Beschäftigten in diesem Prozess, indem sie Anforderungen ökologischer, geschlechtergerechter sozialer und kultureller Art an die Arbeitstätigkeit der Beschäftigten formulieren und zur Geltung bringen. Sie haben, da die Beschäftigten die Fähigkeiten zur Erfüllung dieser Anforderungen besitzen, daher ein Interesse an der umfassenden Auseinandersetzung der Beschäftigten mit ihrer Arbeitstätigkeit. Es liegt also an den Unternehmen, ob sie weiter die produktive Kraft der Beschäftigten beschränken oder ihnen die Möglichkeit eröffnen, sie allseitig zu nutzen. Und es liegt an den gesellschaftlichen Kräften, ob sie die Voraussetzungen schaffen, damit die Beschäftigten ihre Fähigkeiten vollständig entfalten können.

Der Gang der Geschichte wird zeigen, dass die neue produktive Kraft der Beschäftigten sich nicht dauerhaft beschränken lässt. Was zu entscheiden ist, ist die Frage nach dem Umgang mit der Entwicklung der produktiven Kraft. Sie wird entweder von den Beschäftigten in den derzeitigen Schranken unbewusst weiterentwickelt werden. Durch diese Entwicklung hervorgerufene Trends wie Globalisierung, Digitalisierung und Individualisierung würden weiterhin als fremde, von außen kommende verstanden; die bisher zu beobachtenden Folgen wie Entfremdung, Leistungsdruck etc. würden dabei zunehmen. Oder aber dieser  Prozess wird bewusst erarbeitet: Der Wandel des Arbeitens wird von den Menschen bewusst entwickelt. Sie lernen, wie sie zusammen arbeiten und ihre produktive Kraft gesellschaftlich produktiv gebrauchen können. Die Beschäftigten werden den Wandel des Arbeitens vollziehen, und es liegt an uns, ob wir uns ihm entgegenstemmen oder ihn bewusst unterstützen, für eine Gesellschaft, in der wir bewusst gesellschaftlich zusammen arbeiten.