Hauptsache dem Kind geht es gut? – Für mehr Selbstbestimmung der Frau*/Gebärenden bei der Geburt

Inhaltswarnung: Dieser Antrag behandelt unter anderem das Thema Gewalt bei der Geburt und schildert auch Gewalterfahrungen unter der Geburt (insbesondere die Zeilen 80-119).

Nein heißt Nein! Und zwar auch im Kreißsaal. Von Freund*innen und Bekannten entsteht immer mehr der Eindruck, dass die Geburt zu einem traumatisierenden Erlebnis für werdende Eltern werden kann. Statistiken sprechen davon, dass in Deutschland etwa 40 bis 50 Prozent der Mütter von psychischer und/oder körperlicher Gewalt bei der Geburt betroffen sind. Auch die WHO hat sich bereits dem Thema angenommen und dennoch gibt es zu wenig mediale und politische Aufmerksamkeit für das Thema. Doch warum eigentlich? Ist doch die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen entweder selbst oder indirekt von dem Thema Geburt betroffen. Es wird viel über fehlende Kita-Plätze, steuerliche Förderungen von Familien oder Herdprämien diskutiert, aber auf den Sektor der Geburt kommt niemand zu sprechen. Vielleicht, weil dann deutlich würde, dass die Zustände auf den Geburtsstationen in einigen Gegenden katastrophal sind. Bemühungen, dem demografischen Wandel entgegenzuwirken, laufen ins Leere, solange ein Gesundheitssystem aufrechterhalten wird, das den Ursprung, die Geburt eines Kindes, erschwert.

Das deutsche DRG-System und strukturelle Probleme

In Deutschland gilt seit 2003 ein Klassifikationssystem, bei dem bestimmte Krankenhausfälle diagnosebezogenen Fallgruppen zugeordnet und dementsprechend abgerechnet werden. Kurzum: das G-DRG-System (engl. Abkürzung für German Diagnosis Related Groups). In der Theorie klingt an diesem System erstmal alles ganz logisch und fair. Das Budget einer Klinik berechnet sich nach der Anzahl seiner Patient*innen und dem Aufwand der Behandlung. So sollen faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Kliniken geschaffen werden und sich leistungsfähige Kliniken am Ende durchsetzen. Alles natürlich mit dem Ziel eine gleichmäßige und hohe Qualität der Versorgung zu günstigen Preisen zum Wohl der Patient*innen herauszubilden. Dass der klinische Alltag oftmals anders aussieht und Kliniken völlig überlastet sind, zeigt sich in zahlreichen Berichten von Ärzt*innen und Klinikpersonal.

Der Vorrang ökonomischer Ziele und ein marktgerechtes Verhalten zwingt Kliniken Kosten beständig zu senken, um noch effizienter zu wirtschaften. Abläufe werden vereinfacht, verbilligt und es wird am Personal gespart. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Missachtung von fachlichen Standards und Patient*innen für die wenig Zeit bleibt, sind die Folge. Besonders der pflegerische und therapeutische Personalschlüssel wird stark abgesenkt. Die zunehmende Ökonomisierung und Kommerzialisierung von Klinik und Gesundheitswesen verändert die Ärzt*in-Patient*in-Beziehung. Auch der deutsche Ethikrat äußerte sich bereits zu dem Thema und sieht das Patient*innenwohl in Gefahr. Durch das Fallpauschalensystem werden Fehlanreize geschaffen, was dazu führt, dass gut organisierte und stark spezialisierte Fachkliniken mit planbaren Behandlungen und mit wenig Notfallbehandlungen an Personal und Lohn sparen und ihre Patient*innen stark selektiv auswählen können. Dadurch können sie deutlich höhere Gewinne erwirtschaften. Ökonomisch unattraktive Fachabteilungen wie die Geburtshilfe werden abgebaut. Nach Angaben der Bundesregierung ist die Anzahl der Kliniken, die eine Geburtsstation führen, von 880 im Jahre 2006 auf 690 im Jahr 2016 gesunken. Trend anhaltend. Die Vergütungsweise im Fallpauschalensystem belohnt medizinische Eingriffe. Wird versucht diese zu vermeiden, wie häufig gewünscht, gibt es weniger Geld. Die Präsenz von einem fachkundigen Team und viel Aufmerksamkeit für die Gebärende sind letztlich die hohe Kunst in der Geburtshilfe, aber finanziell unattraktiv. Ein kurzes Rechenbeispiel verdeutlicht das ganz deutlich: Eine ganz normale Geburt einer gesunden Mutter, die ein gesundes Kind am Termin zur Welt bringt, wird mit ungefähr 2.000 Euro vergütet. Ein ganz normaler Kaiserschnitt bringt dagegen knapp 3.000 Euro.  Während jedoch der Kaiserschnitt im Regelfall nach 30 Minuten vollbracht ist, kann sich die vaginale Geburt über 15 Stunden oder mehr hinziehen. Kaiserschnitte lassen sich so auch besser in den organisatorischen Ablauf von Kliniken integrieren.

Der Kostendruck trifft also besonders Geburtsstationen, denn das System schafft Anreize zur effizienten Leistung. Umso komplizierter der Fall umso höher die Vergütung. So wird das Neugeborene schon vor seiner Geburt zu einem Teil des Wirtschaftskreislaufs, ein Kreislauf, welcher auf Ertrag und nicht auf Bedarf ausgelegt ist. Eine interventionsfreie Geburt lohnt sich wirtschaftlich gesehen nicht. So finden nur noch 6 Prozent der Geburten ohne Eingriffe statt. Die Fokussierung auf die Technik stellt die Empfindungen der Frau*/Gebärenden in den Hintergrund. Es geht darum Ressourcen, wie z.B. den OP-Saal optimal ausgelastet zu haben oder es wird gezielt mit Mitteln zur Wehenförderung eingegriffen, um die Personaleinsparungen aufzufangen. Im Vergleich zu Geburtshäusern, wo Geburten meist über 12 Stunden dauern, sind es in Kliniken bloß 8 Prozent.

Der Markt regelt eben nicht alles zum Besten!

Die Geburtsstationen sind überlastet. Es müssen ständig schwangere Frauen*/Gebärende aufgrund von Personalengpässen an andere Kliniken verwiesen werden. Selbst unter Wehen und mit Voranmeldung. Ärzt*innen und Hebammen beklagen, dass sie unter den derzeitigen Bedingungen die eigenen Ansprüche an die medizinische Versorgung, eine patient*innenfreundliche Organisation und den Umgang mit Mitarbeiter*innen nicht mehr gerecht werden können. Und die Lage spitzt sich mit weiteren Schließungen von Geburtsstationen immer mehr zu. Die Geburtshilfe ist aufgrund von strukturellen Problemen unterfinanziert. So werden Frauen*/Gebärende nach der Geburt möglichst schnell wieder entlassen, denn Krankenhausbetten sind teuer – und um die Nachsorge könnten sich ja eigentlich die Hebammen kümmern. Versicherte Frauen*/Gebärende haben nämlich sowohl während der Schwangerschaft als auch 12 Wochen nach der Entbindung ein Recht auf die Betreuung durch eine Hebamme. Wäre da nicht das nächste Problem, dass es auch nicht genügend Hebammen gibt. So begeben sich schwangere Frauen*/Gebärende bereits mit dem Schwangerschaftstest in der Hand vergeblich auf Hebammensuche. Am meisten leiden darunter die Frauen*/Gebärenden aus wirtschaftlich schwachen Regionen oder mit Migrationshintergrund. Durch unzureichende Kenntnisse über eben dieses Recht auf Hebammenbetreuung haben sie das Nachsehen, da sie im Vergleich zu spät mit der Suche beginnen und dann erfahren müssen, dass sie keine Hebamme mehr finden können, die Zeit für sie hat. Der Hebammenmangel ist bereits bekannt und viel diskutiert. Die, durch den Gesundheitsminister Jens Spahn, geplante Akademisierung des Hebammenberufs wird von den Hebammenverbänden begrüßt, packt das Problem jedoch nicht an der Wurzel. Steigende Haftpflichtprämien und zunehmende Bürokratisierung in der Geburtshilfe schrecken ab den Beruf überhaupt zu erlernen. Auch die Entlohnung wird der zu tragenden Verantwortung nicht gerecht. So verdient eine freiberufliche Hebamme, die im Krankenhaus im Schichtdienst arbeitet an einer Geburt 165,60€ (mit Nachtzuschlag 198,64€). Haftpflichtprämien haben sich von 2002 bis 2017 verzehnfacht. Wenn es bei einer Geburt zum Beispiel zu Sauerstoffmangel und deswegen zu einer Behinderung des Kindes kommt, dann klagen Renten- und Krankenversicherung den Schaden bei der Haftpflichtversicherung der Hebamme ein. Betrachtet man dann welchem Stress die Hebammen ausgesetzt sind, ist der Mangel nicht verwunderlich. In anderen EU-Ländern wie beispielsweise Norwegen betreut eine Hebamme pro Jahr 35 bis 50 Geburten. In Deutschland sind es hingegen 120 Geburten. Die Bundesregierung will einen Hebammenmangel offiziell nicht bestätigen. Mit der Einschätzung dürfte sie wohl allein dastehen.

Was hat das mit der Selbstbestimmung der Frau*/Gebärenden zu tun?

Leidtragende von diesen strukturellen Problemen sind Frauen*/Gebärende. Dass die Situation der Geburt dabei eine ganz besondere ist, wird sich im Folgenden zeigen. Gebärende haben erstmal ganz grundsätzlich, wie alle Menschen, das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es muss klar sein, dass die Frauen*/Gebärenden, die Umstände, in denen sie ihr Kind zur Welt bringen wollen, frei wählen können. Dabei spielen Empathie, Respekt und das Gefühl wirklich gesehen und ernst genommen zu werden eine große Rolle.  Die Frau*/Gebärende befindet sich in einer der anstrengendsten und schmerzhaftesten Phasen ihres Lebens. Wie kann es da verantwortet werden, dass sie übergangen, gedrängt oder Entscheidungen gegen ihren Willen getroffen werden. Die Geburt wird dann traumatisch, wenn Frauen*/Gebärende nicht in Entscheidungsprozesse einbezogen oder über medizinische Vorhaben unzureichend oder gar nicht informiert werden. Es geht darum, dass sie gestärkt aus dem Geburtsprozess hervorgehen kann, denn es geht eben nicht nur um die Gesundheit des Kindes. Jedoch sind sich besonders bei einer ersten Geburt Frauen*/Gebärende unsicher was normal ist und wie ihre Rechte aussehen. Das Thema Gewalt in der Geburtshilfe ist schambelastet. Schmerzen, erfahrener Kontrollverlust und Gewalterfahrungen werden häufig nicht thematisiert. Die Psychologie ist sich schon lange einig, nicht nur physische Gewalt führt zu einer Traumatisierung. Jede Situation, die eine absolute Hilflosigkeit auslöst und in denen weder Kampf noch Flucht möglich ist, ist potentiell traumatisierend. Jede Geburt, die unter Zeitdruck und ohne ausreichende Kommunikation stattfindet, lässt die Gebärenden und ihre Begleitpersonen hilflos zurück. Diese Frauen*/Gebärende sind nicht überempfindlich, sie werden stigmatisiert. Sie erfahren psychische Gewalt, die auch als Sekundärtrauma auf ihre Familie übertragen werden kann. Berichte von zahlreichen Betroffenen, vor allem im Zuge der Roses Revolution, zeigen jedoch, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Gewalt zeigt sich hier in den unterschiedlichsten Formen. Sie berichten davon, wie sie angeschrien, beschimpft oder unter Druck gesetzt wurden, ihnen das Essen oder Trinken verboten oder Gebärende unter der Geburt im Kreißsaal allein gelassen wurden. Auch physische Gewalt ist ein Thema und vor allem in einer so intimen Situation für Frauen*/Gebärende traumatisierend. Auch wenn es strittig ist, ob hier von sexueller Gewalt gesprochen werden kann, ist es doch fragwürdig, wenn die verschiedensten Menschen unter Stress und teilweise ohne medizinische Indikation ständig den Muttermund ertasten, aufgrund von Zeitmangel Dammschnitte getätigt werden oder über den meist von Beginn an gelegten Venenzugang Medikamente ohne Einverständnis verabreicht werden. Auch das Festschnallen der Beine oder der Zwang das Kind in Rückenposition zu gebären schneidet die Freiheit der Frauen*/Gebärenden ein. Diese völlig tabuisierte Gewaltform zeigt ein tiefgehendes, gesellschaftliches Problem. Sie zeigt die Zusammenhänge auf zwischen der nachlässigen Behandlung der Geburtshilfe im Gesundheitssystem, einer noch immer vorhandenen Frauen*feindlichkeit in unserer Gesellschaft und aktuellen politischen Vorgängen. Qualitätsmerkmal muss in Kliniken sein, dass eine Frau*/Gebärende die Zeit bekommt, die sie benötigt und jederzeit ernst genommen wird! Eingriffe, die medizinisch notwendig sind, sollen und müssen natürlich durchgeführt werden, aber die wenigsten Eingriffe sind so akut, dass einem nicht kurz die medizinische Notwendigkeit erklärt werden könnte. Und auch die Beschleunigung der Geburt ohne Not stellt per se keinen Gewaltakt dar, wenn dies im Sinne der Schwangeren geschieht.

Eine Frau*/Gebärende, die von einer Geburtserfahrung traumatisiert ist, die vielleicht keine Nachsorgehebamme mehr findet, taucht in keiner Statistik auf. Die Qualität der Geburtshilfe wird anhand von Mortalitätsstatistiken gemessen. Doch Folgeschäden, beispielsweise eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung oder psychische Probleme können dabei gravierend für Betroffene sein. Eine bessere Finanzierung von Geburtsstationen würde ein besserer Personalschlüssel und so mehr Zuwendung für die Frauen*/Gebärenden bedeuten. Nur damit und mit der Enttabuisierung des Themas kann das Problem der Gewalt eingedämmt werden.

Zusammenfassung

Wie der Antrag gezeigt hat, liegen dem Thema der Gewalt gegen Frauen*/Gebärende bei der Geburt strukturelle Probleme zugrunde. Das G-DRG-System benachteiligt ökonomisch ineffektivere Sektoren wie die Geburtsstationen und sorgt so dafür, dass unterschiedliche Patient*innengruppen in Konkurrenz zueinanderstehen. Das darf aus einer jungsozialistischen Perspektive nicht sein! Es braucht eine gemeinwohlorientierte Daseinsvorsorge, die das deutsche Fallpauschalensystem durch eine wissenschaftliche, integrierte Bedarfsplanung auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene unterstützt. Das ist dringend nötig, damit nicht noch mehr Geburtsstationen geschlossen werden. Um eine gerechte Geburtshilfe mit genügend Wertschätzung für die Gebärenden zu garantieren, muss der Personalschlüssel für Geburtsstationen anders berechnet werden. Denn ein zu hohes Arbeitspensum führt zu einem unachtsamen Umgang mit Patientinnen. Außerdem muss das Thema von physischer und psychischer Gewalt in der Geburt enttabuisiert werden und Frauen*/Gebärende in der Gesellschaft endlich ernstgenommen werden. Oftmals wird die Problematik auch von betroffenen Frauen*/Gebärende schöngeredet oder verdrängt, weil der Eingriff mit etwas Positivem – der Geburt des eigenen Kindes – endet.

Deshalb fordern wir:

  • Eine andere Berechnung von Fallpauschalen in der Geburtshilfe (u.a. darf das Kostengewicht für einen Kaiserschnitt nicht höher sein als für eine natürliche Geburt). Grundsätzlich fordern wir die Ersetzung oder eine grundlegende Reform des Fallpaulschalensystems.
  • Gewährleistung einer kontinuierlichen 1:1 Betreuung der Frauen*/Gebärenden durch eine Hebamme.
  • Die angemessene Vergütung von Geburtshelfer*innen.
  • Gewährleistung von wohnortnaher Versorgung von Frauen*/Gebärenden vor allem auf dem Land (max. 40 Minuten Anfahrt).
  • Abbau hierarchischer Strukturen in Kliniken. (Auch um Hebammen ein besseres Standing zu verschaffen.)
  • Eine Lösung für die Problematik der Haftpflichtversicherungsprämien der Hebammen durch beispielsweise die Einrichtung eines Haftungsfonds.
  • Frauen*/Gebärende, die bereits von sexualisierter Gewalt betroffen waren, bedürfen einer besonderen Betreuung während der Geburt.
  • Recht auf Information, informierte Zustimmung beziehungsweise Ablehnung sowie Achtung von Entscheidungen und Präferenzen, einschließlich des Rechts auf Unterstützung durch eine Person der Wahl, sofern dies möglich ist.
  • Die Sicherstellung von Psychosozialer/Traumapädagogischen Betreuung vor, während und nach der Geburt.
  • Das Garantieren einer individuellen und angemessenen medizinischen Behandlung.
  • Eine echte Wahlfreiheit zwischen klinischen und außerklinischen Geburten wie beispielweise in Geburtshäusern oder auch zu Hause, die nur durch die ausreichende Verfügbarkeit von Hebammen gewährleistet werden kann.
  • Einrichtung einer Institution, bei der medizinisches Personal/Hebammen/Ärzt*innen Missstände, aber auch betroffene Frauen*/Gebärende ihre Erlebnisse (fehlende Betreuung/Aufklärung, Traumatisierung) anonym melden können.