WENIGER ARMUT IN EINEM REICHEN LAND – ARMUT WIEDER IN DEN MITTELPUNKT STELLEN

EINLEITUNG

JedeR glaubt zu wissen, was „Armut“ ist, dabei versteht unter diesem Aspekt jedeR etwas vollkommen Unterschiedliches. Wer den Begriff der Armut verwendet betritt ein ideologisch vermintes Gelände, auf dem über die sozialökonomische Architektur und die Machtstruktur unserer Gesellschaft verhandelt wird. Armut tritt somit nicht in einem luftleeren Raum auf, sondern ist von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen abhängig, unter denen sie herrscht. Hieraus ergibt sich auch die Schwierigkeit der Armutsdefinition.

ARMUT IM ALLGEMEINEN
„Armut in einem reichem Land“, so titelt der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Christoph Butterwegge. Und beschreibt damit ein Problem, das auf den ersten Blick in einem reichem Industrieland wie Deutschland wie ein Paradox erscheint. Denn Armut, die vorrangig gerne nur als Problem der Entwicklungsländer gesehen wird, herrscht auch in einem reichen Land wie Deutschland. Zu wenig wurde in den letzten Monaten von Armut gesprochen. Alleinig die Diskussion über eine Erhöhung beziehungsweise Senkung der Hartz-IV-Sätze war Thema. KeinEr jedoch sprach von dem weitreichenderen Problem der Armut oder gar ihrer Bekämpfung. Der alleinige Versuch, durch beispielsweise die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, Armut zu verhindern, ist dabei der falsche Ansatz. Es mag sein, dass Hartz-IV ein Existenzminimum darstellt, es trägt jedoch nicht dazu bei, dass sich Armut langfristig verringert. Falsch ist es in diesem Zusammenhang auch, sich alleinig auf die materielle Armut in den Diskussionen zu beschränken. Wir sprechen nicht von absoluter Armut, von physischer Armut, wie sie die UN mit der Verfügbarkeit von einem Dollar und weniger pro Tag zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse misst; was auf 1,2 Milliarden Menschen weltweit zu trifft. Wir sprechen viel mehr von der Armut, der relative Armut, der des soziokulturellen Existenzminimums.

NICHT-TEILHABE MANCHER GRUPPEN AM GESELLSCHAFTLICHEN WANDEL
Doch die Welt in der wir uns heute befinden, ist nicht mehr die der 50er oder der 70er Jahre. Heute werden ganz andere Anforderungen an die Gesellschaft und an die in ihr agierenden Mitglieder gestellt. Sie stehen, obwohl sie den Wandel zu einer postmateriell ausgerichteten Gesellschaft vollzogen haben, im Zwiespalt zwischen Chancen und Möglichkeiten. Zwar ist unser Leben immer freier und individueller geworden und JedemR steht es heute frei zu tun, was immer sie/er möchte. Doch diese neue Freiheit bedeutet noch nicht, dass Entscheidungen einfach werden. Ein Paradox, das vielleicht allen die gleichen Wahlmöglichkeiten bietet, aber noch lange nicht die gleichen Chancen, diese wirklich ergreifen zu können. Denn den Wandel, den unsere pluralistische Gesellschaft vollzogen hat, kommt nicht bei allen „sozialen Schichten“ gleichermaßen an.1

FORDERUNGEN

NICHT DIE FALSCHEN WEGE WEITER GEHEN
Daher kann es weder unser Ziel sein, den Sozialstaat in seinem Aufgaben, wie es die Neoliberalen planen, zu beschneiden. Vielmehr müssen Lösungsansätze gefunden werden, um Armut langfristig zu bekämpfen.

SOZIALE TEILHABE
Armut ist nicht nur ein Problem der materiellen, sondern auch der gesellschaftlichen Teilhabe. Daher muss es unser Ziel sein, dass auch bildungs- und einkommensschwächeren Schichten, die gleichen Möglichkeiten an Teilhabe und Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden. Denn Armut lässt sich nur durch Integration, in jeglichen Sinne, und nicht durch Abschottung, Ghettoisierung oder Ausgrenzung einzelner Gruppierungen, bekämpfen.

MEHR BILDUNG
Auch in einer Gesellschaft, die liberaler geworden ist und bei der Schulwahl mehr Freiheiten erlebt, ändert sich kaum etwas an den schichtentypischen Verteilungen. Studien bestätigen immer noch, dass Bildungserfolg vorrangig vom Bildungsstandard der Eltern abhängt. Der Schlüssel zur Überwindung von Armut ist Bildung. Dabei beginnt Bildung nicht erst am Tag der Einschulung. Die wichtigsten Grundlagen für Bildung wurden bereits vorher gestellt. Denn Kinder aus armutsbedrohten Familien wurden schlechter auf die Grundschule vorbeireitet. Sie erhalten von Geburt an weniger Förderung als andere Kinder. Sie besuchen seltener eine Kindertagessstätte oder Musikgruppen, sie zeigen bei der Einschulungsuntersuchung häufiger Auffälligkeiten und Entwicklungsverzögerungen. Arme Kinder bleiben dreimal häufiger Sitzen, als andere Kinder. Arme Kinder bekommen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium. Zum einen sind ihre Leistungen meist schlechter, als die der anderen Kinder. Aber selbst bei gleicher Leistung sind ihre Chancen auf eine gymnasiale Empfehlung dreimal geringer. Das Resultat: Sie landen häufiger auf der Hauptschule. 39% der armen Kinder kommen hierher. Bei den anderen sind es nur 17%. Genau anderes verhält es sich am Gymnasium. Von den armen Kindern gehen 21% dorthin, von den gut verdienender Eltern jedoch 39%.Und die Schullaufbahn geht so weiter. Mehr als die Hälfte, 57%, der armen Kinder erreichen nur einen Hauptschulabschluss. Und nur 14% der Kinder, die arm geboren sind, beenden ihre Schule mit dem Abitur. Von den Kindern, die nicht arm sind, bekommen 34% das Abitur. Ihnen stehen alle weiteren Berufswege offen. So unterschiedlich sind ihre Chancen für die Zukunft. 2 Daher kann es nicht unser Ziel sein, Kinder immer früher zu trennen. Sei es nun durch die Aufhebung der Grundschulbezirke, die weitere Ausbreitung der Privatschulen, die nicht Erhöhung der BAföG-Sätze zu Gunsten eines Elitenförderprogramms.

GERECHTE UMVERTEILUNG UND VERMEIDUNG VON TRENNUNG
Das deutsche Schulsystem bestärkt somit den Effekt der armutsbedingten Segregation und Selektion, da Kinder aus sozialschwachen Familien und Kinder aus den wohlhabenden Familien oft getrennte Wege gehen. Die Gemeinschaftsschule als Ziel, zur Überwindung dieser Problematik, ist nur ein Ziel, das wir uns als SozialdemokratenInnen setzen müssen. Des Weiteren muss an der gerechten Umverteilung von oben nach unten festgehalten werden.

BÜRGERVERSICHERUNG – WIEDEREINSTIEG & STÄRKUNG IN DIE SOLIDARGEMEINSCHAFT
Darauf zielt auch die Bürgerversicherung ab. Mit der Einführung der Kopfpauschale und der Umstrukturierung des deutschen Gesundheitswesens in den letzten Monaten vollzog sich der langsame Ausstieg aus dem Solidarprinzip. Durch das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages werden Mehrkosten in den kommenden Jahren ganz auf die ArbeitnehmerInnen umgelegt. Die Loslösung aus der paritätischen Finanzierung verletzt somit das Solidarprinzip und unterstreicht damit die neoliberale Idee vom Ausstieg aus dem Sozialstaat. Daher muss es unser Ziel sein, die Solidargemeinschaft wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Wir können nicht tatenlos zusehen, wie private, gutverdienende Mitbürgerinnen und Mitbürger beispielsweise aus der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung abwandern und in den staatlichen Systemen nur noch die zurück bleiben, die sich nichts anders leisten können. So werden sich Probleme, wie die Rentenfrage, Altersarmut oder auch der demographische Wandel nicht lösen lassen. Ziel kann es daher nur sein, alle Teile der Gesellschaft allgemein, einheitlich, fair und solidarisch teilhaben zu lassen, worauf beispielsweise die Bürgerversicherung abzielt.

MIT MEHR NACHDRUCK FÜR DEN MINDESTLOHN
Immer wieder wird, und wurde auch in der Diskussion zu den Hartz-IV-Sätzen, die Einführung eines Mindestlohns als Problemlöser angeführt. Ihm wird eine unabdingbare Rolle zu geschrieben, doch verkommt der Mindestlohn dabei doch eher zur leeren Plattitüde. Er wird als einziger und damit alleiniger Problemlöser aller schwierigen und armutsbedingten Probleme gesehen, die sich in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt entwickelt haben, zu deren Entstehen die SPD einen entscheidenden Anteil beigetragen hat. „Mindestlohn“ wird als Begriff zum Inbegriff der alleinigen Lösung. Doch so verlieren wir andere Möglichkeiten aus den Augen. Es ist richtig und wichtig einen Mindestlohn einzuführen, doch schon lange ist nicht mehr alleine die SPD Vertreterin dieser Ansicht. Auch DGB und Linke haben sich in die Diskussion eingereiht und ihre Forderungen zum Mindestlohn erhöht. Doch scheint es als hätte sich die Partei aus der Diskussion heraus genommen. Vielmehr wird die Forderung nach einem Mindestlohn zu einer Standardantwort in Interviews und Fernsehansprachen, aber schon längst ohne wirkliche Kampagne. Dabei könnte gerade ein Mindestlohn das Armutsproblem in Deutschland verringern. Ein gesetzlicher Mindestlohn könnte das Problem des Lohndumpings im Niedriglohnbereich, zu Kosten des SteuerzahlersIn, lösen. 20 von 27 EU-Ländern, darunter die wirtschaftsstarken Länder, wie Frankreich oder Großbritannien, besitzen einen gesetzlichen Mindestlohn, der entgegen der Behauptungen deutscher WirtschaftsvertreterInnen, nicht zu einer Schwächung der Binnenwirtschaft geführt hat. Wodurch dieses gern angeführte Beispiel als negativ Szenario, bei einer Führung eines deutschen Mindestlohns, seine Legitimationsgrundlage verliert.

KINDERARMUT BEKÄMPFEN
Ein besonderes Anliegen der Jusos sollte es sein, die Kinderarmut zu bekämpfen, da sie den elementarsten Wert einnimmt. Chancengleichheit möglichst von Anfang an, durch einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für unter 3-Jährige, beitragsfreie Kindergärten, den Ausbau von Ganztagsschulen, die nicht nur dazu beitragen Kinder aus armutsbedrohten Familien zu fördern und zu unterstützen, sondern es Eltern/AlleinerziehendeN ermöglichen Vollzeitstellen annehmen zu können. Darüber hinaus verweisen das Mini-/Midijobbing und die faktische Arbeitslosigkeit vieler älterer ArbeitnehmerInnen, weiterhin das „Aufstocken“ von RentnerInnen durch Tätigkeiten im Niedriglohnbereich auf ein relativ neues Armutsphänomen, das präventiv und reaktiv zu bekämpfen ist, wobei kompensatorische Maßnahmen wie die von der Bundesarbeitsministerin angedachte Instrumententrias von „Zuschussrente“ , Steigerung der Hinzuverdienstmöglichkeiten sowie Verbesserung bei Erwerbsminderungsrenten das Grundproblem Armutsrisiko jedoch gerade nicht an der Wurzel fassen:
Eine wachsende verdeckte wie offene Altersarmut, deren massiver Anstieg unter den Bedin-gungen gegenwärtig weit verbreiteter prekärer Beschäftigung, sinkender Rentenniveaus, diskontinuierlicher Erwerbsbiographien und demographischen Wandels nur allzu erwartbar ist, beginnt sich abzuzeichnen.
Die Armutsspirale verschärfend bzw. das Armutsrisiko im Sinne von materieller Not und gesellschaftlichem Teilhabeverlust erhöhend treten im Falle dieser Bevölkerungsgruppe noch spezifische altersbedingte Faktoren wie Mobilitäts- und Gesundheitseinschränkungen, Altersdiskriminierung oder teilweise Sprachbarrieren bei alten Menschen mit Migrationshintergrund hinzu. Armut kann nicht mit Geld alleine bekämpft werden, jedoch müssen Maßnahmen, Programme und Projekte, die sich diesem Ziel widmen, weiterhin unterstützt und nicht weiter gekürzt werden. Es fehlen bundesweit Finanzmittel um verschieden Einrichtungen, wie Tafeln, Drogenhilfen etc., die versuchen sekundär die Armut zu bekämpfen, zu finanzieren. Sicherlich gibt es keinen vollkommenen Weg oder Plan, wie es gelingen kann Armut vollständig zu überwinden. Es gibt jedoch genügend Maßnahmen mit denen es gelingen kann Armut zu reduzieren. Daher fordern wir, dass Armut wieder mehr im Mittelpunkt politischer Entscheidungen stehen sollte.

1 Individualisierungstheorie nach dem Soziologen Ulrich Beck                                                                                                                                                                                     2 Quarks & Co., 12.April 2011; WDR