„Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen“

Schon seit ihrer Gründung ist die Bundesrepublik Deutschland ein Einwanderungsland! Seit den 50er Jahren begann die Bundesrepublik mit dem Anwerben von sogenannten Gastarbeiter*innen, ohne die der wirtschaftliche Aufschwung nach dem zweiten Weltkrieg nicht möglich gewesen wäre. Auch heute sind wir auf Arbeitsmigration angewiesen. Der Grund ist vor allem der demographische Wandel, der dazu führt, dass es in vielen Branchen an Nachwuchsfachkräften fehlt. Doch nicht nur Fachkräfte werden gesucht, gerade im Niedriglohnbereich (z.B. Baugewerbe, Gebäudereinigung, Landwirtschaft, Logistikbranche, Pflegebereich) werden massiv Arbeitnehmer*innen vor allem aus osteuropäischen EU-Staaten  rekrutiert. Arbeitgeber*innen nutzen die relative Armut, v.a. in süd- und osteuropäischen Ländern aus, um Arbeitskräfte für den Niedriglohnbereich zu gewinnen. Um Produktionskosten weiter zu senken wird das Arbeitsrecht umgangen und Arbeitsmigrant*innen in Deutschland ausgebeutet. Aktuelle Beispiele wie der Skandal beim Fleischkonzern Tönnies zeigen, dass die momentane Gesetzeslage und/oder  ihre Durchsetzung nicht ausreicht, um die angeworbenen Arbeitnehmer*innen wirksam vor Ausbeutung zu schützen.

Die Probleme betreffen vor allem die folgenden Bereiche:

Unternehmensmodelle (Werkverträge, Subunternehmen, Scheinselbstständigkeit):

Unternehmen können ein Werk, also die Ausführung einer Leistung, an Subunternehmen vergeben. Die Bezahlung erfolgt alleine für das geleistete Werk, Arbeitnehmer*innen werden direkt durch das Subunternehmen angestellt. Dieses Modell kann genutzt werden, wenn z.B. eine Versicherung den Betrieb einer Kantine an ein anderes Unternehmen vergibt. Es wird heutzutage aber auch genutzt, um eigentlich brancheneigene Produktionsschritte auszulagern. Ein Beispiel ist die Schlachtung und die Zerlegung in einem Schlachtbetrieb. Hier dienen die Werkverträge nur dem Zweck, sich der Verantwortung als Arbeitgeber*in zu entziehen. Die Werkverträge bringen für die Arbeitnehmer*innen viele Nachteile mit sich, z.B. ist jedes Subunternehmen einzeln für die Arbeitssicherheit und Hygiene in seinem Bereich zuständig, was bei einer hohen Anzahl an Subunternehmen zu Lasten der Arbeiter*innen nicht funktionieren kann. Für die Belange der Arbeitnehmer*innen interessieren sich die Subunternehmen meist nicht. Außerdem kennen die aus dem Ausland angeworbenen Arbeiter*innen oft das deutsche Recht nicht und sprechen auch kein Deutsch. Das führt zu Abhängigkeit von den Subunternehmen und Folgen wie unbezahlten Überstunden, verspätete Lohnzahlungen, Druck bei Krankheit, etc.

Entlohnung und Arbeitszeiterfassung:

Für alle in Deutschland ausgeführten Arbeiten gilt der Mindestlohn. Das gilt auch für Arbeitnehmer*innen, die bei ausländischen Firmen angestellt sind. Einige Unternehmer*innen schaffen es aber durch unter Druck setzen, ausnutzen von rechtlichen Grauzonen und Betrug bei der Arbeitszeiterfassung Arbeitnehmer*innen um den Mindestlohn zu prellen.

Ein besonders drastisches Beispiel hierfür ist die sogenannte Live-in-Pflege. Eine Mehrzahl der Deutschen wünscht sich eine Pflege zuhause. Dies ist aber durch ambulante Pflegedienste für viele Familien nicht bezahlbar. Der allgemeine Pflegemangel verschärft das Problem zusätzlich. Daher vermitteln Unternehmen vor allem osteuropäische Pflegekräfte, die dauerhaft mit den pflegebedürftigen Personen zusammen wohnen. Bezahlt werden diese für eine errechnete Arbeitszeit von 40h/Woche, die in der Realität aber nicht eingehalten werden kann, da Live-in-Pfleger*innen ständig in Bereitschaft sind. Doch auch Bereitschaftsdienst ist Arbeitszeit. Sowohl Unterbringung, häufig ohne ausreichende Privatsphäre, als auch die Erwartung, rund um die Uhr ohne Pausen für die Pflege einer Person zuständig zu sein, sind nicht hinnehmbar, stellen aber die Realität dieses Pflegemodells dar. Gerade Frauen* sind hier betroffen. Neben den nicht hinnehmbaren Arbeitsverhältnissen entsteht hier auch ein Problem in den Herkunftsländern. Durch die Arbeitsmigration nach Deutschland verstärkt sich der Pflegenotstand vor Ort. Ein Teufelskreis. Auch in anderen Branchen werden Arbeitszeiten falsch erfasst um einen niedrigeren Stundenlohn zu zahlen. So werden beispielsweise in der Logistikbranche Ladearbeiten nicht als Arbeitszeit erfasst oder Arbeitnehmer*innen unter Druck gesetzt, unbezahlte Überstunden zu leisten. Zukünftig müssen alle Arbeitgeber*innen die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten nachweisen können. Eine Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes ist daher dringend notwendig, auch um dem entsprechenden Urteil des EuGH vom Mai 2019 zu entsprechen.

Unterkunft:  

In vielen Fällen wird den Arbeitnehmer*innen über den*die Arbeitgeber*in eine Unterkunft vermittelt. Dabei ist der “Mietvertrag” meist entweder direkt als “Zusatzvereinbarung” an den Arbeitsvertrag angehängt, oder die Vermietung erfolgt offiziell privatrechtlich, gern auch über Dritte. Das Problem: Nach Artikel 13 GG – Unverletzlichkeit der Wohnung haben zuständige Behörden, außer bei Vorhandensein eines Wohnungsaufsichtsgesetzes (z.Zt. in 6 Bundesländern), keine Möglichkeit, die Wohnräume auf Zumutbarkeit zu kontrollieren. Verschärfend kommt hinzu, dass oft nicht einmal die Lage der Unterkünfte den zuständigen Behörden bekannt ist. Das ermöglicht unter anderem die Vermietung von heruntergekommenen Unterkünften sowie Überbelegungen. Ein weiteres Problem sind überteuerte Mieten von bis zu 400€/Monat für ein Bett in einer Gemeinschaftsunterkunft. Hier fehlt eine gesetzliche Beschränkung der Mieten. Zuletzt findet häufig eine zeitliche Kopplung von Arbeitsvertrag und Mietvertrag statt, d.h. der Mietvertrag endet wenn der Arbeitsvertrag endet, obwohl dies rechtlich eigentlich nicht zulässig ist. Hier fehlen offensichtlich wirksame Mechanismen, um diesen Gesetzesverstoß zu unterbinden. Die oben genannten Probleme hängen auch mit der Intransparenz des Arbeits- und Mietvertrags für die Arbeitnehmer*innen zusammen. Die Verträge liegen oft nur auf Deutsch vor, sodass der genaue Inhalt für die Arbeitnehmer*innen häufig unbekannt bleibt. Die Miete wird meistens direkt vom Lohn abgezogen. Auch andere Zahlungen, wie z.B. für Verpflegung oder den Transport zur Arbeitsstelle werden pauschalisiert überhöht abgezogen, um die Lohnkosten zu drücken ohne offiziell unter Mindestlohn zu bezahlen.

Beratung und Absicherung der Arbeitsmigrant*innen:

Das Anwerben von Arbeitskräften im Ausland wird für Unternehmen auch dadurch attraktiv, dass sie fehlende Rechts- und Sprachkenntnisse erwarten. Vor dem Hintergrund, dass die meisten Arbeitsverträge in deutsch ausgehändigt werden und nicht übersetzt sind, verstehen Arbeitsmigrant*innen den Inhalt nicht, wenn sie der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Somit gehen sie rechtswidrige Arbeitsverträge ein ohne vorher ausreichend beraten zu werden. Die meisten Sub- und Werkvertragsunternehmen haben keine Betriebsräte und Tarifverträge. Diese Strukturen wurden im Gegenteil u.A. geschaffen um Tarifverträge umgehen zu können. Dadurch wird eine umfassende gewerkschaftliche Vertretung und Beratung quasi unmöglich gemacht. Betroffene berichten immer wieder, durch Arbeitgeber*innen unter Druck gesetzt worden zu sein. Ihnen würde z.B. ihr letzter Lohn nicht ausgezahlt, wenn sie sich beschweren oder kündigen wollen.

Schlaglicht auf die Missachtung der Rechte von Arbeitnehmer*innen und Tieren – die Causa Tönnies:

Alle diese Probleme und ihre Folgen für die Rechte von Arbeitnehmer*innen ließen sich im Sommer 2020 exemplarisch am Gütersloher Tönniesstandort begutachten. Obwohl die unhaltbaren Umstände bereits lange bekannt waren, fehlte jahrelang das öffentliche Interesse, der dementsprechende Druck und der politische Wille der dort regierenden CDU, die Probleme im Sinne der dort arbeitenden Menschen anzugehen. Erst die Sorge vor einem Übergreifen des Coronaausbruchs unter den überwiegend osteuropäischen Arbeiternehmer*innen in die restliche Bevölkerung ermöglichte Maßnahmen zum Schutz der Arbeitskräfte oder das Verbot der zweckentfremdeten Werkverträge. Dieser Skandal zeigt erneut, dass ausländische Arbeitnehmer*innen in vielen Branchen aus wirtschaftlicher Not Arbeit übernehmen, die viele Deutschen unter diesen Bedingungen nicht ausüben würden und gleichzeitig, dass es von einzelnen Initiativen abgesehen keine Lobby für die Betroffenen dieser Situation gibt.

Für uns folgt daraus, dass Änderungen an diesem System dringend notwendig sind!

Daher fordern wir:

Unternehmensmodelle

  • Werkverträge nur in branchenfremden Tätigkeitsbereichen von Unternehmen
  • Nur “echte” Werkverträge, d.h. das ausführende Unternehmen handelt eigenständig mit eigenen Mitteln, Personal und Bestimmung von Abläufen und Durchführung

Entlohnung und Arbeitszeiterfassung

  • Anpassung des Arbeitszeitgesetzes: Erfassungspflicht der täglichen Arbeitszeiten der Angestellten (inkl. alle Reisezeiten, die nicht die An- und Abfahrt zur eigentlichen Dienststelle betreffen)
  • Verlässliche Systeme zur Arbeitszeiterfassung
  • Ausbauen der Kontrolle der Korrektheit der Arbeitszeiterfassung und der Arbeitsbedingungen
    • Unangekündigte oder sehr kurzfristige Kontrollen

Unterkunft

  • Wohnungsaufsichtsgesetze in allen Bundesländern
  • Schärfere Kontrollen um die gegebene Gesetzeslage umzusetzen (Wohnungsaufsichtsgesetz NRW und Arbeitsstättenverordnung)
    • Ressourcen ausbauen
  • Schärfere Konsequenzen bei Gesetzesverstößen (Erhöhung von Geldstrafen)
  • Ergänzung der Arbeitsstättenverordnung
    • Erweiterung der Kontrollzuständigkeit der Arbeitsschutzbehörden für Unterkünfte und Konkretisierung im Arbeitsstättenrecht, wann es sich um eine Unterkunft nach Arbeitsstättenverordnung handelt. Es muss dabei egal sein, ob die Unterkunft direkt von dem*der Arbeitgeber*in gestellt wird oder der Mietvertrag über Dritte läuft.
    • Anhebung der Mindeststandards in Bezug auf Platz und sanitäre Anlagen
    • Deckelung der Kosten: Die Regel sollte unentgeltlicher Wohnraum sein, aber maximal darf die Miete dem Wert der Unterkunft nach Sozialversicherungsentgeltverordnung (SvEV) entsprechen. Es dürfen keine Vermittlungsgebühren verlangt werden.
  • Meldepflicht für Wohnungen nach Arbeitsstättenverordnung an die zuständigen Behörden der Länder

Beratung und Absicherung der Arbeitsmigrant*innen

  • Vorlage der Verträge in für Arbeitnehmer*innen verständlicher Sprache
  • Gleichstellung aller Arbeitnehmer*innen in Betrieben
    • Anstellung beim Betrieb (s. Abschaffung Werksverträge)
    • Mitbestimmungsmöglichkeiten: Betriebsräte, Mitarbeiter*innenbefragungen, etc.
  • Gewerkschaftliche Vertretung der Arbeitsmigrant*innen und verbindlicher Rechtsschutz
  • Vereinfachung von Verbandsklagemöglichkeiten im Fall von Ausbeutung und Arbeitsrechtverstößen
  • Politische Mitbestimmung und Interessenvertretung in Kommunen (insbesondere Integrationsräte/-beauftragte)

Quellen

DGB. Ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Fleischwirtschaft ist gut begründbar – gleichzeitig die Wohnsituation verbessern. (Fassung 01.07.20)

DGB, AG Unterbringung. Werkverträge, Arbeitsstätte und Unterkunft. Vortrag 23.06.2020

DGB. Fleischindustrie „Die Arbeitsbedingungen sind unterirdisch“ Was sich in der Fleischindustrie ändern muss. (29.07.20) https://www.dgb.de/themen/++co++53ca173c-d17b-11ea-b6e9-001a4a160123

Claudia Walther. “Tönnies und (k)ein Ende – Corona als Chance.” (09.07.20) https://blog.wegweiser-kommune.de/diverses/toennies-und-kein-ende-corona-als-chance?fbclid=IwAR2ptBqsFU4MUyE1kZgI4gs95vnTLtSC3oxU5z0nNVfOXHcANNxeD43QDns